"The Valley of the Shadow of Death": In seiner wohl berühmtesten Aufnahme aus dem Krimkrieg zeigte der englische Fotograf Roger Fenton eine mit Kanonenkugeln übersäte Straße. Kampfszenen waren beim damaligen Stand der Fototechnik nicht möglich, Bilder von Verwundeten oder Toten verboten.

Foto: Roger Fenton

Zar Nikolaus I.: Selbsternannter Retter der Christenheit (Gemälde von Franz Krüger, 1852).

Gemälde von Franz Krüger

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Krankenschwester Florence Nightingale: humanitäre "Ikone des Viktorianismus".

Foto: AP

"Times"-Reporter William Howard Russell: ungeschminkte Berichte (Foto von R. Fenton, 1855).

Foto: R. Fenton

Mit seinem neuen Buch legt der britische Historiker Orlando Figes ein weiteres Meisterwerk vor.

Wien – Der erste Kampfeinsatz der Nato lag fast 150 Jahre in der Zukunft, der letzte "klassische" Kreuzzug mehr als fünfeinhalb Jahrhunderte zurück. Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 hatte von beidem etwas, wenn man Motive und Allianzen der Beteiligten betrachtet; in ihm trafen Mittelalter und Moderne aufeinander, mit geballter ideologischer Wucht aus der Bibel, verstärkt und verbreitet durch mediale Propaganda, und teilweise neuzeitlicher Kriegstechnik, aber fatalen militärischen Fehlern, über die ebenfalls erstmals aktuell und detailliert von Zeitungen berichtet wurde.

Die Bilanz: mehr als eine Million gefallener Soldaten, ungezählte tote Zivilisten – und ein bis heute nachwirkendes tiefes Misstrauen zwischen dem Westen und Russland.

Religiöse Dimension

In weitgehender Verkennung seiner geopolitischen Dimension war der Krimkrieg bisher ein eher vernachlässigtes Kapitel der europäischen Geschichte. Der herausragende britische Historiker und Russland-Kenner Orlando Figes (Tragödie eines Volkes, Die Flüsterer) widmet sich in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen neuen Buch* vor allem den religiösen und weltanschaulichen Aspekten des Krieges.

Im Kern ging es um die "orientalische Frage": wie sich die europäischen Großmächte gegenüber dem Osmanischen Reich, dem "kranken Mann am Bosporus", verhalten sollten, dessen baldiges Hinscheiden von vielen erwartet wurde. Russland sah die Chance gekommen, seine Einflusszone nach Süden auszuweiten - aber nicht in erster Linie als weltliche Großmacht. In der Person von Zar Nikolaus I. erfuhr der Anspruch der russischen Orthodoxie, das wahre Christentum zu vertreten, seine ideale Personifizierung.

Laut Figes begann der Krieg für Nikolaus tatsächlich als Kreuzzug – er gebrauchte das Wort selbst – zur Befreiung der orthodoxen Slawen von der islamischen Herrschaft der Ottomanen. Wunschziel war die Wiedereroberung Konstantinopels, das die Russen Zarstadt nannten. Es sollte wieder zum Ostrom werden, womit sich die historische Mission des "Heiligen Russland" als Retter der Christenheit erfüllen würde. Letztlich habe Nikolaus davon geträumt, Russland als dominante Macht im Heiligen Land zu etablieren. Damit allerdings stellte er sich gegen das katholische Frankreich, das sich, in der Tradition der Kreuzzüge des Mittelalters, seinerseits als legitimen Verwalter und Beschützer der heiligen Stätten in Palästina sah.

Nikolaus versuchte bis zuletzt, die Briten auf seine Seite zu ziehen - durchaus auch unter Ausnützung der britisch-französischen Erbfeindschaft. Das christliche England sollte eigentlich das gleiche Interesse haben, den Einfluss der türkischen Muselmanen zurückzudrängen. Er irrte gewaltig. Ein (bis zuletzt geheim gehaltener) Besuch bei Königin Viktoria in London scheiterte.

Der Zar unterschätzte die Russophobie, die sich in England über Jahrzehnte aufgebaut hatte, laut Figes damals "das ausgeprägteste und hartnäckigste Element der britischen Einstellung zur Außenwelt". Hauptquelle dieser Angst waren die rasche territoriale Expansion des Russischen Reiches im 18. Jahrhundert und der militärische Sieg über Napoleon.

Mitentscheidend für die öffentliche Meinung und letztlich auch für die reale Politik gegenüber Russland in England wie in Frankreich war ein gefälschtes Testament Peter des Großen. Dessen Ziel sei die Beherrschung der Welt durch Russland gewesen, legte die Fälschung nahe.

Unheilige Allianz

So wurde der – von Russland provozierte – Krimkrieg auch für den "Westen" zum Kreuzzug: gegen ein zur globalen Bedrohung hochstilisiertes Zarenreich, das imperiale Ziele hinter religiösen Motiven verstecke. Dabei war die antirussische Allianz eine durchaus unheilige: An der Seite Englands, Frankreichs und, ab 1855, Sardiniens (Vorläufer des späteren Italien) stand – das islamische Osmanische Reich. Vor allem in England, das auch um seine Handelswege fürchtete, hoffte man auf liberale Reformen in der Türkei, wozu es Ansätze gab.

Die Hoffnungen erfüllten sich allerdings nicht – damals. Sie erinnern frappant an die heutige EU-Türkei-Debatte, wie auch an die Rolle, die sich das Nato-Mitglied Türkei im Arabischen Frühling und generell als neue regionale Großmacht zugedacht hat.

Verblüffend ist auch eine andere Parallele. Es war, laut Figes, der erste Krieg der Geschichte, der durch den Druck der Presse und der öffentlichen Meinung herbeigeführt wurde. Ein Großteil der britischen Presse betrieb mit antirussischen Reflexen massive Kriegshetze. Der Morning Advertiser, die Boulevardzeitung jener Zeit, verlangte sogar die Hinrichtung von Viktorias Prinzgemahl Albert wegen angeblicher prorussischer Haltung. Der Appell der Königin an die Herausgeber, die Kriegshetze einzustellen, blieb erfolglos. "Die Herausgeber selbst hatten die Artikel gebilligt und sie in manchen Fällen sogar eigenhändig geschrieben, denn durch solche Texte stiegen die Verkaufszahlen" (Figes). Einem Beobachter der heimischen Medienszene kommt das bekannt vor.

Keine Heldensagen

Eine positivere Rolle spielten Teile der britische Presse nach Kriegsausbruch. Times-Reporter William Howard Russell berichtete direkt von den Schlachtfeldern – allerdings nicht die von den Militärs gewünschten Heldensagen. Seinen Bericht vom Einsatz der Light Brigade bei Balaklava, der zum Desaster mit großen Menschenopfern wurde, verarbeitete der britische Dichter Alfred Lord Tennyson zu einem Gedicht. Das trug zur Ernüchterung bei. So wie das Engagement der britischen Krankenschwester Florence Nightingale zur Verbesserung der Verwundetenversorgung die Rezeption des Krieges in der europäischen Öffentlichkeit veränderte.

Die ersten jemals von einem Krieg aufgenommenen Fotos lieferte der englische Fotograf Roger Fenton. Schlachtszenen waren beim damaligen Stand der Technik nicht möglich, Bilder verwundeter oder toter Soldaten verboten. Aber Fentons Aufnahme einer mit Kanonenkugeln übersäten Straße ist in ihrer stummen Eindringlichkeit eines der bewegendsten Kriegsdokumente. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. November 2011)