Es gibt nichts zu deuten. 58,8 Prozent der Baden-Württemberger wollen den neuen unterirdischen Stuttgarter Superbahnhof, nur 41,2 Prozent sind dagegen. Das ist kein knappes Ergebnis, das ist eine Schlappe für die Grünen und für die Wutbürger gleichermaßen.

So wild und groß war der Protest gegen den teuren unterirdischen Bahnhof in Stuttgart zeitweise gewesen, dass man glauben konnte, im sonst so braven Ländle wohnen mindestens 99 Prozent Wutbürger, die ihre Lust am Protest genussvoll ausleben - sei es im selbstgebatikten T-Shirt, sei es im teuren Maßanzug.

Heute weiß man: Der Wutbürger war eher ein Wutbürgerlein, und damit wären wir schon bei der ersten Lehre aus dieser Volksabstimmung über den Bahnhof Stuttgart 21: Wer am lautesten schreit, bildet nicht automatisch die Mehrheit und setzt sich auch nicht immer durch.

Lehren zu ziehen ist vor allem für die Grünen mit ihrem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann im Moment eine der wenigen Handlungsmöglichkeiten. Der Bahnhof kann nicht mehr gestoppt werden, dieser Zug ist am Sonntag abgefahren. Die Grünen, die ihren Erfolg in Stuttgart zu einem großen Teil dem Widerstand gegen S 21 verdanken, müssen nun einen Bau mitfinanzieren, den die grüne Basis mehrheitlich ablehnt. Die Ökopartei steht an der Bahnstrecke und kann keine Weiche stellen.

Das wird selbst für den populären Kretschmann schwieriger, als am Freitagabend im überfüllten ICE zwischen Berlin und Hamburg einen Sitzplatz zu finden. Dennoch war es richtig von ihm, die Niederlage gleich offen einzuräumen und gleichzeitig klarzustellen, dass die Landesregierung den Bahnhofsbau nicht behindern wird.

Als grüner Oppositioneller war es Kretschmann leicht möglich, gegen den umstrittenen Tiefbahnhof zu wettern. Als Regierungschef ist er jedoch nicht (s)einer Partei, sondern der Verfassung verpflichtet und muss sich an Verträge halten. Ob das alle Bahnhofs-Gegner verstehen werden oder ob der Frust über eine Partei, die gegen ihre Überzeugung handelt, nicht letztendlich größer sein wird, ist noch nicht abzusehen.

In Baden-Württemberg und über das Land hinaus wird diese Volksabstimmung hoffentlich für die Zukunft wegweisend sein. Großprojekte sind durchsetzbar, aber man darf das Volk dabei nicht übergehen. Es lässt sich nicht mehr mit der Erklärung abspeisen, dass ohnehin Parlamente mit Entscheidungen befasst sind und Beschlüsse somit einfach akzeptiert werden müssen.

Basta - selbst wenn es parlamentarisch legitimiert ist - hat ausgedient. Stuttgart ist in Deutschland nicht der einzige Ort des Widerstandes. In Hamburg lehnte das Volk eine Schulreform ab, in der Hauptstadt Berlin gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße, um gegen die Abänderung von Flugrouten zu protestieren.

In Stuttgart war es nicht mehr möglich, die Uhr noch einmal auf null zu stellen. Die Volksabstimmung war zwar richtig, denn ein anderes Machtwort als sein eigenes hätte das Volk nicht mehr akzeptiert. Dennoch kam das Votum eineinhalb Jahrzehnte zu spät. Wer das Volk mitbestimmen lassen will, der muss es logischerweise vor Projektbeginn befragen und nicht, wenn ohnehin kaum noch Spielraum besteht. Dann werden die Gräben auch nicht so tief und unüberwindbar, wie sie es nun in Baden-Württemberg sind. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.11.2011)