Natürlich stellt die Übernahme von Haftungen für Deutschland und andere Geberländer ein Risiko dar. Ohne eine koordinierte Schuldenfinanzierung droht aber erst recht die Beschleunigung der Abwärtsspirale.

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Die europäische Integration verlief immer wieder in Schüben, und immer wurden diese Schübe durch Wirtschaftskrisen angestoßen: Der Binnenmarkt entstand 1987 nach der schweren Rezession der frühen Achtzigerjahre, die Idee zur Währungsunion wurde nach dem Zusammenbruch des Wechselkursmechanismus im Jahr 1993 geboren. Mit jedem Schritt wurde die Bruchlinie der Integration um eine Stufe nach vor verschoben. Im bislang letzten Schritt hob die Einführung des Euro die Bruchlinie zwischen einem integrierten Gütermarkt und separierten Finanzmärkten auf, öffnete aber gleichzeitig eine neue, nämlich zwischen einem integrierten europäischen Finanzmarkt und national operierenden Staatsfinanzen. - Es ist exakt diese Bruchlinie, die den Euroraum derzeit ins Wanken bringt. Während die USA im nächsten Jahr ein Staatsdefizit von nahezu 10 Prozent des BIPs ausweisen werden, dürfte das kumulierte Staatsdefizit des Euroraums insgesamt unter 4 Prozent liegen - und dennoch ist es der Euro-Raum, der in einer Krise steckt.

Allein dies zeigt, dass er dringend verbesserte Instrumente der wirtschaftspolitischen Koordination benötigt. Die Besonderheit des Euro-Raums liegt eben darin, dass Staaten, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, eine eigenständige Geldpolitik, und insbesondere die Möglichkeit einer Abwertung nicht mehr zur Verfügung haben. Sie können dadurch in eine Abwärtsspirale geraten, in der sich die Erosion der Staatsfinanzen und des Bankensektors gegenseitig verstärken: Der Kursverfall der Staatsanleihen bringt die Banken unter Druck, und deren Zurückhaltung beim Kauf neuer Anleihen erschwert wiederum die Finanzierung der Staatsdefizite. Dies drückt die Kurse weiter, während der Staat immer weniger in der Lage ist, die Banken zu stützen.

Langfristige Gefahren

Eine solche Abwärtsspirale hat sich in den letzten Wochen im Euro-Raum angedeutet. Mögliche Gegenmaßnahmen sind Eurobonds und der verstärkte Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank. Vorschläge in diese Richtung sind aber auf den starken Widerstand Deutschlands und anderer potenzieller Geberländer gestoßen.

Beide Maßnahmen bergen tatsächlich langfristige Gefahren. Sie würden nämlich eine neue Bruchlinie in der europäischen Integration öffnen, die Bruchlinie zwischen europäisierten Staatsschulden und deren demokratischer Kontrolle. Am offensichtlichsten ist dies bei Eurobonds. Eine gegenseitige unbegrenzte Haftung der Staaten für ihre Schulden - Variante 1 des Vorschlags der Kommission - liefe auf einen gegenseitigen Blankoscheck zur Finanzierung der nationalen Sozial- und Pensionssysteme hinaus und würde die Hoheit der nationalen Parlamente über die Budgets untergraben. Die negativen politischen Konsequenzen einer solchen Regelung in Form zunehmender zwischenstaatlicher Konflikte und der Stärkung nationaler Tendenzen sind absehbar.

Vielleicht weniger offensichtlich, aber ebenso vorhanden sind die Kosten umfangreicher Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB. Es mag sein, dass verstärkte Ankäufe zur Krisenbekämpfung nötig sein werden, und die EZB wird sie wohl tätigen. Massive Ankäufe würden aber über kurz oder lang entweder zu höherer Inflation oder zu Verlusten der EZB führen. Die daraus resultierenden Kosten würden von allen Mitgliedstaaten getragen werden.

Dennoch werden Deutschland und die anderen potenziellen Geberländer die ökonomischen Realitäten auf Dauer nicht ignorieren können: Ein koordiniertes Vorgehen zur Bekämpfung der Divergenzen im Euro-Raum ist dringend notwendig. Die Frage ist: Wie kann eine Lösung aussehen, welche die aktuelle Lage beruhigt und dennoch die langfristigen Kosten in Grenzen hält?

Eine Möglichkeit, die vom belgischen Ökonomen de Grauwe vorgeschlagen wurde, ist eine abgeschwächte Variante von Eurobonds mit beschränkter Haftung. Jedes Land würde nur anteilig zu seiner Größe haften und es gäbe es einen internen Zahlungsausgleich: ein Land, das für seine nationalen Staatsanleihen geringe Zinsen zahlt, würde auch entsprechend weniger zu den Zinszahlungen für die Eurobonds beitragen. Die effektive Zinslast für die einzelnen Staaten würde sich daher nicht wesentlich verändern. Dennoch könnte die Emission dieser Eurobonds die Krise eindämmen. Wegen ihres geringeren Ausfallsrisikos und daher - hoffentlich - besseren Ratings könnten sie die Bankenbilanzen maßgeblich stabilisieren und die Gefahr eines weiteren Auseinanderdriftens der Zinsen reduzieren. Indem man die Laufzeiten kurz hält, könnte man die Eurobonds nach dem Ende der Krise rasch wieder auslaufen lassen.

Eine Lösung könnte auch direkt an der Rekapitalisierung des Bankensektors ansetzen. Hier be- steht dringender Handlungsbedarf, denn die im Oktober beschlossene Erhöhung der Anforderungen an die Eigenkapitalquoten belastet die Banken stark. Die Intention, das Insolvenzrisiko der Banken und damit die Unsicherheit auf den Finanzmärkten zu reduzieren, war grundsätzlich richtig. Unglücklicherweise hat man aber davon abgesehen, die Banken unter sanftem Druck zur Aufnahme staatlichen Partizipationskapitals zu überreden. Die Banken verweigern dies, weil es den derzeitigen Eigentümern Verluste bringen würde, und verkleinern stattdessen ihre Geschäfte.

Akuter Handlungsbedarf

Sie stoßen also Staatsanleihen ab - neben dem Rückzug internationaler Investoren einer der Gründe für die Zinsanstiege der letzten Wochen - und reduzieren ihre Kreditvergabe. Dies erhöht derzeit die Gefahr einer Rezession. Eine Initiative zur Rekapitalisierung der Banken auf Basis einer gesamteuropäischen Finanzierung sollte nicht nur die Banken stabilisieren, sondern auch das Vertrauen in die Staatsfinanzen der Krisenländer stärken.

Ob sich eine dieser Möglichkeiten durchsetzen können wird, und ob sie tatsächlich ausreichen würde, bleibt zu sehen. Bei beiden Maßnahmen beschränken sich die Kosten für Deutschland und die Geberländer auf die Übernahme von Haftungen. Natürlich stellen diese ein Risiko dar. Tritt man aber der Gefahr einer Abwärtsspirale nicht rasch entgegen, dann könnten die Kosten ein Vielfaches betragen und es könnte erzwungenermaßen eintreten, was Deutschland am meisten fürchtet: massive Käufe von Staatsanleihen durch die EZB. (Gerhard Rünstler, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.11.2011)