Zur Person:
Jean-Marie Lustiger wurde 1926 in Paris geboren, wohin seine Familie Mitte der 20er-Jahre aus Polen ausgewandert war. Nach der Deportation seiner Eltern (die Mutter starb in Auschwitz) wuchs er in einer christlichen Familie in Orléans auf. 1940 konvertierte er zum katholischen Glauben.

Foto: Standard/Cremer

Der Pariser Erzbischof Kardinal Jean-Marie Lustiger ist bekannt für seine freimütigen Aussagen. Mit dem Kardinal sprach Hans Rauscher über den "Gotteskrieger" Bush, den Islam und das "christliche Europa".

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STANDARD: Eminenz, die katholische Kirche und der Papst, haben sich sehr scharf gegen den Irakkrieg gewandt. Sie selbst haben noch schärfer gesagt, wenn Präsident Bush auffordert, für den Sieg gegen den Irak zu beten, so wäre das schockierend.

Lustiger: Das war ein Interview, das verkürzt wiedergegeben wurde. Aber es ist schockierend, Gott für die eigene Sache zu instrumentalisieren.

STANDARD: Bush empfindet sich als wiedergeborener Christ. Ist Beten für den Sieg christlich?

Lustiger: Man kann immer zu Gott beten und ihn um alles bitten, was man will. Aber ein Staatschef, der die Religion für seine Zwecke mobilisiert, überschreitet eine Grenze.

STANDARD: Die Iraker sind jetzt aber von einer furchtbaren Diktatur befreit. War dieser Krieg nun gerechtfertigt oder nicht?

Lustiger: Das ist nicht mehr die Frage. Was der Papst gesagt hat und was weiter gilt, ist, dass der Krieg das schlechteste aller Mittel ist. Der Papst hat außerdem eine langfristige Vision. Der Krieg hat den Irak vielleicht von einer schrecklichen Diktatur befreit, aber wir sehen noch nicht alle Konsequenzen dieses Krieges. Vielleicht hätte man es auch anders machen können.

STANDARD: Eminenz, in den letzten Tagen haben Sie Kardinal Schönborn bei der Stadtmission assistiert. "Neuevangelisierung" von einer Rockmusikbühne vor dem Dom - ist Eventkultur der neue Weg?

Lustiger: Es ist die Sprache eines Teils der Jugend von heute, nicht mehr, nicht weniger. Wenn der Rock nichts sagt, dann ist es nichts, wenn er dazu dient, Hoffnung zu geben, hat das Sinn. Es sagt den Männern und Frauen, dass sie über ihr Leben nachdenken sollen.

STANDARD: Tatsächlich kümmern sich die Menschen nicht mehr um die Sittenlehre der Kirche, etwa im Sexualleben.

Lustiger: Die Sitten bleiben vom Glauben geprägt, nicht immer im Ganzen, aber z. B. in der Menschenwürde, der Solidarität, dem Humanismus. Das stammt vom Christentum. Viele Leute sehen in dieser Änderung der Sitten in den letzten 50 Jahren eine Befreiung. Das ist ein Wechsel, der seine eigenen Schwächen mit sich bringt. Man hat in den 60er-Jahren diese großen Wohnblocks gebaut, für viele war das ein besseres Leben. Aber jetzt reißt man diese Blocks ab, weil sie unmenschlich geworden sind.

STANDARD: Der europäische Islam ist ein Problem geworden, auch wegen eines EU-Beitritts der Türkei. Ist Europa ein christliches Projekt?

Lustiger: Ja, und zwar nach der Maßgabe, dass es eine gewisse Kultur gibt, Menschenrechte, Trennung von Staat und Kirche, soziale Verantwortung. Der europäische Humanismus, der auf das Christentum zurückgeht, ist die Basis der universellen Menschenrechte. Wenn die Türkei diesen Humanismus übernimmt, spricht nichts gegen einen Beitritt. Aber die Entscheidung liegt bei den Politikern.

STANDARD: Im Verfassungsentwurf für die EU wird Gott nicht erwähnt, sondern nur die "religiösen Traditionen".

Lustiger: Die Meinung der Kirche und meine Meinung ist, dass Europa schon seit Jahrhunderten besteht - kulturell -; wenn es nicht schon existieren würden, könnte man es nicht schaffen. Die Völker sind zu unterschiedlich. Wenn man nicht diese gemeinsame kulturelle Wurzel nimmt, würde es kein Europa geben. Es wäre nur eine Wirtschaftsgemeinschaft.

STANDARD: Es ist immer die Rede vom Dialog mit dem Islam. Ist der überhaupt möglich?

Lustiger: Der eigentliche religiöse Dialog ist sehr schwierig. Möglich ist eine Diskussion über die Punkte Ethik und Moral, sogar wenn man nicht einverstanden ist - zum Beispiel mit der Rolle der Frau. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.6.2003)