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Foto: APA/YASUMASA MORIMURA
Im Mittelalter sollen es vor allem jüdische und islamische Gelehrte gewesen sein, die sich mit Fragen zu Sexualverhalten, Empfängnisverhütung und Koitus befassten. Eine umfassende Sammlung von Fallstudien, "Psychopathia sexualis", veröffentlichte der österreichische Psychiater und Gerichtsarzt Richard von Krafft-Ebing 1886. Er wies darin ungewöhnliche sexuelle Verhaltensweisen bestimmten Krankheitsbildern zu. Später definierte er Begriffe wie Sadismus und Masochismus. Krafft-Ebing erhob Datenmaterial u.a. im Rahmen seiner Tätigkeit an verschiedenen Wiener Krankenhäusern. Aber irgendwann zwischen 1953, als der Biologe Alfred Kinsey erstmals in den USA eine Studie über "Das sexuelle Verhalten der Frau" veröffentlichte, beziehungsweise 1966, als Masters und Johnson Lustempfinden und Sexualverhalten in den USA systematisch beschrieben, dürfte die Sache sanft entschlummert sein.

In der Geschichte der Medizin hat man sich nicht gerade überschlagen, exakte Studien über Frauen, deren körperliche Reaktionen und Lustempfinden durchzuführen. Die Auswirkungen dieser Einstellung sind auch in einem Artikel des British Medical Journal vom Jänner 2003 nachzulesen, in dem der Wissenschaftsjournalist Ray Moyhihan der Pharmaindustrie vorwirft, das "Krankheitsbild" der Female Sexual Dysfunction (FSD), des gestörten Lustempfindens von Frauen, aus niederen Profitmotiven zum Forschungsgebiet zu machen.

Nur müsse man mit der Entwicklung fast bei null beginnen, da es kaum gesicherte Basisdaten über die physiologischen Abläufe im Frauenkörper gebe, auf denen man aufbauen könne. Bis vor wenigen Jahren beschränkte sich Frauensexualforschung weitgehend auf Gynäkologie und Geburtshilfe sowie auf die psychosozialen Aspekte von sexuellem Verhalten, was nicht voneinander zu trennen ist.

Aufklärung darüber, welche Mechanismen im Körper von Frauen bei sexueller Erregung in Gang gesetzt werden, erhofft man sich unter anderem von den Studien der Urologin und Chirurgin Jennifer Berman aus Los Angeles, die gemeinsam mit ihrer Schwester Lauren, Psychologin, seit einigen Jahren umfassende Untersuchungen zu FSD durchführt. Mittels physikalischer Messmethoden werden Parameter wie Hormonniveau, pH-Werte in der Vagina oder Durchblutungsstärke der Vulva bei sexueller Erregung erhoben, um herauszufinden, was als "normal" zu gelten hat.

Vernetzung

Natürlich spiele die Psychologie eine wichtige Rolle, aber "mechanische" Abläufe und physiognomische Gegebenheiten dürfen keineswegs außer Acht gelassen werden, lautet der Ansatz der Berman-Schwestern. Das beginne bei Narben von Geburten oder Operationen, welche die Blutzirkulation behindern können, über Diabetes bis zu Störungen im Hormonhaushalt, die z.B. durch Medikamente verursacht werden können.

Die Erforschung des weiblichen Lustempfindens ist in der Tat eine sehr junge Disziplin, bestätigt Kym Kanaly, Gynäkolgin und Mitarbeiterin von Jennifer Berman, die auch Direktorin des Female Sexual Medicine Center der University of California in Los Angeles (UCLA) ist. Generell wisse man über die Male Sexual Dysfunction wesentlich besser Bescheid. Wenn sich Männer einer Prostataektomie unterziehen müssen, wird größte Sorgfalt darauf verwandt, schonend zu operieren, um nichts zu verletzen, das für das Funktionieren beim Sex notwendig ist. Mikrochirurgische Operationstechniken müssten auch für Eingriffe bei Frauen angewandt werden.

Neben Medizin- bzw. Psychiatriestudium haben die Berman-Schwestern zahlreiche Spezialausbildungen als Sextherapeutinnen absolviert. Laura baut derzeit in Chicago ein weiteres FSD-Zentrum auf.

Von Cosmopolitan wurden Jennifer und Laura Berman, schnittig als "Love Doctors" bezeichnet. Tatsächlich genießen sie so etwas wie Starstatus. Kein Master der US-Talk-Shows verabsäumte es, die Schwestern einzuladen. Sowohl Nachrichtenmedien wie Newsweek oder Fortune als auch Glamourmagazine wie Harper's Bazaar brachten ausführliche Geschichten über die Schwestern und ihre Arbeit, die gemeinsam mit Elisabeth Bumiller, einen US-Bestseller "For Women only" verfassten und auf dem Discovery Health Channel eine eigene Fernsehsendung haben.

Nachholbedarf

"Jämmerlich", lautet die Antwort von Soziologieprofessor an der Uni Innsbruck und Vorsitzendem der Akademie für Sexualwissenschaften, Josef Aigner, auf die Fragen nach dem Stellenwert der Disziplin hierzulande. Immerhin ist es der Akademie, die sich u. a. dafür einsetzt, dass Sexualwissenschaft als fester Bestandteil im Medizinstudium aufgenommen wird, gelungen, an der Uni Innsbruck einen 48-stündigen interdisziplinären Wahlfachstudiengang einzurichten. "Eine wirklich umfassende Ausbildung", die alle Bereiche abdeckt und viermal mehr Stunden Ausbildung anbietet als das Hamburg-Eppendorfer Universitätsklinikum, dem laut Aigner führenden europäischen Institut in diesem Bereich. Die Vortragenden in Innsbruck, anerkannte, europäische Experten, werden aus einem jährlichen Budget von 10.000 Euro finanziert, was aber "dank der Kollegensolidarität" funktioniere, wie Aigner erklärt. (Luzia Schrampf, DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 3.6.2003)