Wien - Eher skeptisch bewerten die Kommentatoren in den Mittwoch-Ausgaben der österreichischen Tageszeitungen den ÖGB-Streik vom Dienstag. Die Skepsis gilt dabei freilich nicht nur der Gewerkschaft, sondern auch der Regierung.

"ÖGB - was nun?", fragt sich etwa Norbert Stanzel im "Kurier": "Der Streik ist vorbei und hat nichts gebracht. Denn anders als beim letzten Mal ging es nicht darum, die Regierung zum Verhandlungstisch zu zwingen. Kanzler Schüssel und Vizekanzler Haupt wollten ohnehin weiter verhandeln - bekanntlich hatte der ÖGB die Gespräche abgebrochen und gemeint, streiken sei sinnvoller als verhandeln." Stanzel macht nur einen Nutznießer aus: "Der einzige Profiteur von den Streiks heißt Jörg Haider. Der ÖGB und die Oppositionsparteien liefern ihm jenen Zaubertrank, der ihn stark genug macht, die Koalition vor sich her zu treiben. ... Dass jetzt der ÖGB den Kärntner Landeshauptmann braucht, um bei der Pensionsreform im Spiel zu bleiben, und sich Haider des ÖGB bedient, um seine Rückkehr zu betreiben, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn immerhin wollte Haider einst die Sozialpartnerschaft zerschlagen und für den ÖGB war Haiders '3. Republik' das Reich des Bösen. Jetzt marschieren sie Schulter an Schulter gegen Schüssel."

Andreas Unterberger schreibt unter dem Titel "Danke, jetzt ist es klar" in der "Presse": "Der ÖGB wollte es wissen. Jetzt weiß er es. Die Österreicher sind nicht in eine Radikalisierung hineintreibbar. Damit ist auch das Gewicht des ÖGB - zum Segen für das Land - reduziert. Die Teilnahme an Veranstaltungen war bescheiden. Sallmutter & Co waren erkennbar unzufrieden. Fast überall (sieht man von ÖBB, Lehrern und etlichen Gemeinden ab) haben die meisten - wenn überhaupt - nur so getan, als ob sie streikten, haben die Folgen minimiert." Gefordert sei nun aber auch die Regierung: "Die Regierung sollte sich bewusst sein, dass nach dem unvermeidlichen Ende ständestaatlicher Sozialpartnerei ihre eigene Verantwortung dramatisch gewachsen ist, nicht nur im Grundsatz, sondern auch im Detail gute Gesetze zu machen. Pfusch wie bei Abfangjägerkauf und Schulstundenkürzung darf sich nicht wiederholen. Und die FPÖ sollte sich klar werden, ob sie regieren oder doch das realisieren will, was dem ÖGB missglückt ist: die Staatsaufgabe Pensionsreform stoppen."

In der "Kronen Zeitung" spricht Georg Wailand von einem "Aufstand der Pragmatisierten": "Begonnen hat der Streik um ein Uhr früh bei den ÖBB. Das ist jenes Unternehmen, wo die (überwiegend pragmatisierten) Mitarbeiter mit 52,6 Jahren in Pension gehen und wo bei den über 50-Jährigen im Schnitt hundert (!) Krankenstandstage pro Jahr anfallen. Völlig klar, das man dort gegen diesen sozialen Raubbau, sprich Pensionsreform, zu Felde ziehen muss. "Und weiter: "Was will der ÖGB? Leider hat uns das Hans Sallmutter im TV nicht verraten. Zu schnell sprudelten Worte wie 'überfallsartig' aus ihm heraus, als dass er den Reformvorschlag des ÖGB hätte nennen können. Vielleicht: Keine Pensionsreform, die aber später? Wer weiß ..."

"Streik mit Augenmaß"

Für Kurt Horwitz in den "Vorarlberger Nachrichten" war der Streik "ein teurer Spaß": "Es war eine Hetz', und gekostet hat es auch nicht viel. Der Berufsverkehr verlief in ganz Österreich flüssig wie nur selten; Gewerkschaftsboss (Fritz) Verzetnitsch wurde beim Besuch streikender Arbeiter von der Unternehmenssprecherin des Coca-Cola-Konzerns mit freundlichen Worten und erfrischenden Getränken begrüßt; Siegfried Menz, der Chef der Ottakringer Brauerei, führte mit alemannischer Vorbildwirkung in Wien persönlich Bier aus - kurz: Der gestrige Fast-Generalstreik gegen die Pensionsreform war ein typisch österreichisch-freundlicher 'Arbeitskampf'. Weh getan hat er niemandem; das ist aber auch das einzig Erfreuliche. Die dringend notwendige Pensionsreform droht ein weiteres Mal im politischen Sumpf zu versinken. Wenn schon Abschläge von maximal zehn Prozent 'unerträglich' sein sollen, kann von einer langfristigen Alterssicherung keine Rede mehr sein. Die einzige Alternative wäre, den derzeit stark privilegierten Eisenbahnern, Beamten, Lehrern, Postlern oder Gemeindebediensteten im Zuge einer Pensionsharmonisierung kräftige Einbußen aufzubürden. Dann können kleinere Pensionen generell ungeschoren bleiben."

Von einem "Streik mit Augenmaß" schreibt Gerald Mandlbauer in den "Oberösterreichischen Nachrichten": "Hätten nicht Fernsehen und Zeitungen so ausführlich berichtet, wäre der gestrige Streik an einer Mehrheit der nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesenen Bürger beinahe spurlos vorüber gegangen. Das befürchtete Chaos ist nämlich ausgeblieben. Keine Rede von lahm gelegten Zentren, von blockierten Innenstädten, Unternehmen. Die Gewerkschaften stützten sich bei ihren gestrigen Protesten abermals auf die Getreuesten ihrer Treuen, auf Postler, öffentlich Bedienstete, Mitarbeiter der großen Industriebetriebe, Eisenbahner. Auf sie ist Verlass. Auf jene Österreicher nicht, die nicht zu den Kerntruppen des ÖGB zählen, erst recht nicht nach der zweimaligen Nachbesserung des Pensionspaketes durch die Regierung. Ist der gestrige Streiktag deswegen zu einem Reinfall für den ÖGB geworden? Keineswegs. Der Streik ist so ausgefallen, wie er geplant worden war, nämlich als Protest mit Augenmaß. Die gemäßigten Kräfte des ÖGB verzichteten darauf, ihre schärfste Munition zu laden. Sie haben sich gegen Scharfmacher wie Hans Sallmutter durchgesetzt."

Die "Stunde der Entscheidung" für Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) sieht Erwin Zankel in der "Kleinen Zeitung" gekommen: "Der größte Streik seit Menschengedenken hat Österreich nicht ins Chaos gestürzt. Der Ausfall von Bahn, Bus und Straßenbahn wurde mit Verständnis oder mit Gelassenheit zur Kenntnis genommen. Die Staus gab es vor den Schwimmbädern, nicht auf den Autobahnen. Der brütend heiße Sommertag ging - zumindest für die Funktionäre und Sympathisanten der Gewerkschaft - in Volksfeststimmung zu Ende. Typisch Österreich, wo auch der Leichenschmaus ein Akt der Befreiung nach der Trauer des Begräbnisses ist. Der Vergleich könnte voreilig sein. Noch ist nicht klar, was der ÖGB als nächsten Schritt plant." Und weiter: "Im Moment dürfte der ÖGB durchatmen und abwarten wollen, was in der Politik passiert. Dem Druck der Straße kann Wolfgang Schüssel leichter widerstehen als den Heckenschützen aus dem Lager des Koalitionspartners entgehen. Es war eine bezeichnende Arbeitsteilung: Nachdem Fritz Verzetnitsch die Streikfront abgeschritten hatte, betrat Jörg Haider das Bundeskanzleramt." Jedenfalls: "Viel Zeit hat Schüssel nicht mehr, die Entscheidung zu erzwingen, sonst zerrinnt ihm die Pensionsreform zwischen den Fingern und zerbricht die Koalition in seinen Händen."

Im "Neuen Volksblatt" fragt Franz Rohrhofer "Streik wozu?": "Der groß angekündigte Streik der Gewerkschaften verlief, wie es so schön heißt, in geordneten Bahnen. Immerhin gab es weder ein Verkehrschaos noch handgreifliche Ausschreitungen. Das ist aber schon das einzig Positive an diesem Muskelspiel von ÖGB-Funktionären. Immer deutlicher stellt sich die Sinnfrage solcher Machtdemonstrationen. Beim ersten Durchgang Anfang Mai konnten die Gewerkschaften noch mit dem Ruf nach einem Runden Tisch argumentieren. Den haben sie inzwischen verlassen. Als einzige Forderung bleibt jetzt übrig, die Regierung solle ihren Entwurf und am besten gleich auch sich selbst aufgeben. Von sachlichen Verbesserungsvorschlägen ist nichts zu hören. Damit ist klar, dass die Streiks, sollten sie weitergehen, immer mehr rein politische Kampfmittel werden."

Ronald Barazon schreibt in den "Salzburger Nachrichten" über die "gefährlichen Folgen" des Rufs nach Schadenersatz: "Der Streik sei ohne Zweifel rechtswidrig. Und somit müsse der Gewerkschaftsbund Ersatz für entstandenen Schaden leisten. Die streikenden Arbeitnehmer hätten mit Konsequenzen zu rechnen, da sie ihrer Dienstpflicht nicht nachkommen. Eifrige Juristen schmieden in diesen Tagen eine Waffe, die den Gegnern des Streiks in der Regierung und in den Unternehmen bei der Auseinandersetzung mit dem ÖGB nützen soll. Sie verkennen, dass diese Waffe nicht dem ÖGB schaden wird, sondern den Unternehmen." Und weiter: "Da kein Streikrecht existiert, würden vor Gericht das allgemeine Zivil- und Arbeitsrecht zur Anwendung kommen und der Gewerk schaft wie den streikenden Arbeitnehmern rechtliche Konsequenzen drohen. Werden nun tatsächlich Schadenersatzklagen gegen die Gewerkschaft eingebracht und Entlassungen von Arbeitnehmern wegen Verletzung ihrer Dienstpflicht durchgeführt, so ist der Weg vorgezeichnet: Die Arbeitnehmer werden ein gesetzlich geregeltes Streikrecht verlangen und selbstverständlich auch bekommen. In der Folge werden sie dieses Gesetz nach Kräften ausnützen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit streiken."

"Reif aber Ratlos" kommentiert die "Tiroler Tageszeitung die Situation rund um die Pensionsreform. Der gestrige Streiktag hinterlasse vor allem Verlierer: Den ÖGB, dessen Kampfmaßnahmen bestenfalls eine "Frischzellenkur für die müde gewordene Arbeiterschaft darstelle". Die Regierung, die auf Rücksicht der eigenen Klientel, der Beamten und Bauern eine Harmonisierung nicht konsequent durchführen könne und schließlich den Koalitionspartner FPÖ, der ebenfalls zu schwach sei, um die richtigen Maßnahmen durchzusetzen. Hauptverlierer bleibe aber die derzeit arbeitende Generation, die immer weniger Aussicht auf eine anständige Pension habe, "weil die Schieflagen innerhalb der Berufsgruppen sowie zwischen Aktiven und Pensionisten immer größer werde."

Im "WirtschaftsBlatt" heißt es unter dem Titel "Es streikte die soziale Upper Class": "Mit ihrer Toleranz gegenüber gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen verhalten sich die meisten Österreicher recht praktisch und auch vernünftig. Die Welt geht nicht zu Grunde, weil einen Tag lang die Straßenbahn nicht fährt. Sollte diese unaufgeregte Einstellung aber mit politischer Korrektheit verwechselt werden, so ist heftiger Widerspruch angezeigt. Was hier im Namen der Gerechtigkeit aufgeführt wird, ist Hohn für alle, die ihr Geld durch harte Arbeit verdienen und ein Berufsleben hindurch abnorm hohe Sozialversicherungsbeiträge ablieferten. Einige Arbeitnehmergruppen, die sich ohne Hemmung ihre eigenen Pensionsvorteile bezahlen lassen, zeigen, wie schön sie streiken können: ÖBB-Bedienstete tun das, sofern sie sich nicht schon als Mittfünfziger in den Ruhestand begeben haben; offenbar überforderte Magistratsbeamte auch; durch die Last des bald zu Ende gehenden Schuljahres ausgemergelte Lehrer ganz gewiss; dann die Postbediensteten und somit sogar Berufsgruppen, bei denen die Ausweidung des Sozialsystems bis zur Einschaltung des Staatsanwalts führte." (APA/red)