Lina Attalah in ihrem Büro

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Der Militärrat unter Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawihat die Macht übernommen

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"Der Militärrat geht viel dümmer vor als Mubarak", fasst Lina Attalah, Chefredakteurin der englischsprachigen Ausgabe der Tageszeitung Al Masry Al Youm die Bedingungen zusammen, unter denen Journalisten in Ägypten seit der Revolution arbeiten. Heute „wird in einer Art über das Militär berichtet, wie es früher nicht erlaubt war“, sagt Attalah.

Al Masry Al Youm ist eine Medienorganisation, die 2003 in Kairo von der Diab-Familie gegründet wurde, die seit den 1930er Jahren zu den bekanntesten Herausgebern des Landes gehören. Die Organisation vertreibt seit 2004 die unabhängige Tageszeitung Al Masry Al Youm, neben der staatlichen Al-Ahram die führende Tageszeitung Ägyptens. Bisher gab es zusätzlich eine Online- sowie in unregelmäßigen Zeitabständen eine englischsprachige Druckausgabe der Zeitung. Am 24. November erschien die erste regelmäßige Wochenausgabe mit dem Namen "Egypt Independent". derStandard.at traf die Chefredakteurin der englischsprachigen Al Masry Al Youm-Ausgabe in Kairo und sprach mit ihr über unabhängigen Journalismus in Ägypten, die Gefahren für Blogger und Frauen am Tahrir-Platz sowie die Intransparenz von Armee- und Polizeiapparat. 

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derStandard.at: Al-Masry Al-Youm erscheint als regierungskritische private Tageszeitung seit 2004. Wie hat das unter dem Regime von Mubarak funktioniert?

Lina Attalah: Natürlich gab es da verschiedene Kämpfe, aber die Bemühungen der Regierung von Mubarak, die Presse zu kontrollieren, spielten sich oft im Hintergrund ab. Es gab etwa eine Zeit rund um 2006, da ging es unserer Zeitung finanziell eher schlecht. Das wollte die Regierung ausnützen und schickte einen ihrer Leute, den Stahl-Tycoon Ahmad Ezz, um die Zeitung zu kaufen. Aber die Besitzer haben an Al-Masry Al-Youm festgehalten und weitere Mittel hineingesteckt, bis die Zeitung auch finanziell wieder mehr Fahrt augenommen hatte. Ahmad Ezz wurde nach dem Sturz Mubaraks wegen Korruption zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er war sehr eng mit der Regierung und der National Democratic Party (Mubaraks Partei, Anm.) verbunden.

derStandard.at: Wie sah die Medienpolitik des Mubarak Regimes generell aus?

Lina Attalah: Das Mubarak-Regime verfolgte die Taktik, der Presse immer einen gewissen Spielraum für „freie“ Berichterstattung zu überlassen. Das ist ein Unterschied zu Tunesien, zum Beispiel, wo die Medien noch viel stärker vom Regime kontrolliert wurden. In Ägypten gab es unter Mubarak eben nicht nur Al-Masry Al-Youm, sondern ab 2005 eine Vielzahl von Publikationen und einen Trend hin zu unabhängigem Journalismus. Das soll nicht heißen, dass es keine Repressionen gab. Chefredakteure wurden ins Gefängnis gesperrt, Journalisten gezielt diffamiert, gefoltert und unter Druck gesetzt. Das ist alles passiert, aber es gab einen gewissen Spielraum, in dem wir arbeiten konnten. Als dann die Revolution in Tunesien passiert ist, war bei uns die Ansicht weit verbreitet, dass das in Ägypten nie geschehen könnte. Sie stützte sich auf das Argument, dass bei uns eben doch ein gewisses Maß an Berichterstattung möglich war und dass deshalb der Druck auf das Regime nie so anwachsen könne. Natürlich war das falsch und wir haben erkannt, wie eng abgesteckt dieser Spielraum wirklich war.

derStandard.at: Was hat sich seit dem Sturz Mubaraks für die Medien geändert?

Lina Attalah: Das ist ein weites Feld. Man kann das sehr negativ sehen. Man kann sagen, dass sich nichts geändert hat. Dass es weiterhin eine Militärregierung gibt und wir mit denselben Problemen konfrontiert sind wie zuvor. Aber ich sehe das als einen Prozess. Es kann natürlich nicht sein, dass auf einmal alles perfekt ist, seit es Mubarak nicht mehr gibt. Wir sehen uns immer noch mit einem Regime konfrontiert. Es gibt eine lange Tradition von Regimen seit dem Coup von 1952, die in ihrem Kern militärisch waren. Wir leben weiterhin in dieser Tradition und nichts manifestiert das besser als die Tatsache, dass wir auch heute von einem militärischen Regime, dem Militärrat, regiert werden. Es ist ein Verhandlungsprozess mit dieser Machtstruktur. Es ist ein ständiger Kampf. Wir haben einige Schlachten gewonnen: Es werden mehr Zeitungen publiziert, wir können Dinge sagen, die früher nicht möglich gewesen sind. Es wird in einer Art über das Militär berichtet, wie es früher nicht erlaubt war.

derStandard.at: Wie unterscheidet sich die Taktik der Militärs von jenen Mubaraks?

Lina Attalah: Ich würde das nicht Taktik nennen. Sie sind viel dümmer. Sie verhaften die falschen Leute, wie den sehr kritischen Blogger Alaa Abd El Fattah. Die Militärs haben sich einfach gedacht, sie verhaften ihn und stellen ihm vor ein Militärtribunal, um in abzudrehen. Aber sie haben nicht berücksichtigt, dass er beeindruckende Popularität genießt und nicht nur lokale, sondern auch internationale Unterstützung erhält. Ihr Vorgehen ist sehr naiv. Das lässt sich nicht mit Mubaraks Strategie vergleichen. Und das kommt wohl daher, dass sie keine Erfahrung mit dem Regieren eines Landes haben. Sie sind repressiv, ganz klar, sie werfen Leute ins Gefängnis, schließen Zeitungen, aber ihnen fehlt die politische Gerissenheit Mubaraks.

derStandard.at: Macht das Militärregime in seinem Vorgehen Unterschiede zwischen Bloggern und Journalisten etablierter Institutionen?

Lina Attalah: Ich sehe den einzigen Unterschied darin, dass den verhafteten Bloggern tatsächlich der Prozess gemacht wird. Mit bekannten Journalisten der großen Institutionen gehen sie anders um. Da heißt es dann: „Gehen wir mal auf einen Kaffee und reden“. Es ist eher eine informelle Form der Einschüchterung. Die Blogger hingegen spüren die volle Härte mit Verhaftung und Gerichtsverfahren.

derStandard.at: Hat der Militärrat bei Ihnen schon versucht zu intervenieren?

Lina Attalah: Eigentlich nicht. Das liegt daran, dass wir die englischsprachige Ausgabe sind. Es gibt in Ägypten die Tradition, mit oder ohne Militär-Regime, dass die Machthaber sich nicht wirklich um Dinge kümmern, die der Breite nicht wirklich zugänglich sind, wie eben ein englischsprachiges Blatt.

derStandard.at: Und die arabische Ausgabe von Al-Masry Al-Youm?

Lina Attalah: Ich kann das nicht so beurteilen, weil unsere beiden Ausgaben redaktionell getrennt sind und ich nicht so viel Einblick habe in die arabische Ausgabe. Etwas, das alle betroffen hat, nicht nur unsere Zeitung, ist ein Brief, den der Militärrat im vergangenen März an die ägyptischen Zeitungen verschickt hat. Darin haben sie uns ersucht, den Militärrat zu konsultieren, bevor wir irgendetwas über das Militär publizieren. Da zeigt sich wieder ihre Naivität und das Fehlen des politischen Feingefühls. Denn dieses System funktionierte unter Mubarak sehr gut. Damals hat kaum jemand über das Militär geschrieben, weil wir per Gesetz verpflichtet waren, das vorher mit der Armee-Führung abzuklären. Jetzt aber, da das Land von einer militärischen Junta regiert wird, können wir es uns nicht leisten, jeden Bericht mit ihnen abzuklären. Sie sind also Kritik und täglicher Berichterstattung ausgesetzt, ob sie es wollen oder nicht. Das alles kontrollieren zu können, ist meiner Meinung nach eine weitere Fehleinschätzung der politischen Realität. Soweit ich weiß, wird der Brief vollkommen ignoriert.

derStandard.at: Inwiefern unterscheiden sich die Bedingungen auf dem Tahrir-Platz heute von jenen im Jänner und Februar?

Lina Attalah: Darüber zu reden, wie anders die Situation am Platz diesmal ist, kommt von einer sehr Tahrir-zentrierten Sichtweise der Revolution. Das stellt ein Problem dar. Der Tharir-Platz vom 25. Jänner war eine sehr gentrifizierte Versammlung. Es war diese wunderschöne Modell-Stadt, wo alle vertreten waren, vom oberen Mittelstand bis zur Unterschicht. Das hat sich geändert. Die revolutionäre Logik der Mittelschicht unterscheidet sich inzwischen sehr vom Rest. Es gibt dieses Klassen-Element. Große Teile der Mittelschicht sind jetzt wieder zu Hause und sehnen sich nach Sicherheit und Stabilität und überlegen, ob Tahrir wirklich noch das richtige Mittel ist, das zu erreichen. Andere Leute haben aber immer noch Kämpfe auszutragen. Es sind die Armen, die städtischen und ländlichen, die Marginalisierten; und tatsächlich stammt der Großteil der Opfer von vergangener Woche aus diesen Gruppen. Man kann aber nicht sagen, dass jetzt nur noch die Armen am Tahrir-Platz sind und dass es im Jänner ja ach so schön war. Wir haben in der vergangenen Woche viel darüber diskutiert: Es sind die armen Leute, die an der Front in der Mohammed Mahmoud Straße gekämpft haben. Diejenigen, die an der Front sterben, ändern den politischen Diskurs und beeinflussen politische Entscheidungen. Die Leute vom 25. Jänner können sich nicht leisten, so zu sterben. Es sind unglücklicherweise immer die armen Leute, die das auf sich nehmen. Die jungen Studenten und Mittelständler waren auch am Tahrir, verfolgen aber einen eher gewaltlosen Widerstand. Wir sprechen von diesen Gruppen als die „Ghandis“ und die „Guevaras“.

derStandard.at: Im Zuge der Straßenschlachten von vergangener Woche wurden Zweifel laut, ob das Militär die Polizeikräfte ausreichend unter Kontrolle hat. Gibt es autonome Elemente im Polizeiapparat?

Lina Attalah: Das geht auch noch auf Mubarak zurück, wir sind gerade dabei, die Machtstrukturen im Polizeiapparat zu durchleuchten, sowei es geht. Mubarak stützte sich stark auf den Polizeiapparat und entfachte so eine gewisse Rivalität zwischen Polizei und Armee. Es gibt also eine Art Fehde zwischen diesen beiden Institutionen. In den Neunzigern erreichte der Sicherheitsapparat seine größte Macht, weil es damals zu einer Welle von Terroranschlägen gekommen war, zum Beispiel das Massaker in Luxor. Das war eine Angelegenheit der Nationalen Sicherheit und Mubarak legte sie in die Hände des Polizeiapparats, obwohl die Armee ebenfalls eine Rolle spielen wollte. Es wäre nicht überraschend zu sehen, das es für die Armee eine Herausforderung ist, die Polizei unter ihre Kontrolle zu bringen. Dafür spricht, dass die Armee während der neuesten Kämpfe jeden Tag die Losung ausgegeben hat, keine Gewalt anzuwenden, sie aber trotzdem passiert ist. Es könnte hier zu einer Unterbrechung der Befehlskette gekommen sein.

derStandard.at: Wer sitzt im Polizeiapparat an der Macht?

Lina Attalah: Wir von den Medien haben in diese Machtstrukturen kaum Einblick. Sie sprechen nicht mit uns. Sie sind unsichtbar für uns. Wir kratzen in dieser Hinsicht noch an der Schale. Wir versuchen herauszufinden, wer die wichtigen Leute sind, aber es gestaltet sich schwierig. Polizei und Armee sind sehr intransparent.

derStandard.at: Es gab in letzter Zeit Attacken auf Journalisten am Tahrir-Platz, speziell gegen Frauen. Ist das etwas, das zunimmt?

Lina Attalah: Was am Tahrir-Platz passiert ist, ist eher neu. Seit der Revolution ist fast nichts in der Art passiert. Jetzt hatten wir fünf Tage Straßenkampf und es gibt diese Ansicht, dass Frauen nicht an die Front gehören. Frauen, die da hinwollten, wurden oft Aggressionen entgegengebracht, manche wurden auch verhaftet oder von der Polizei bedroht. Ich kann nicht sagen, ob das zunimmt. Es ist das erste Mal seit der Revolution, dass die Polizei auf diese Weise gegen Journalisten und Aktivisten vorgeht.

derStandard.at: Ist es am Tahrir gefährlicher als früher?

Lina Attalah: Ja, ist es. Das Schießen auf die Augen der Demonstranten war, wie wir jetzt wissen, Absicht. Es wurde ein Polizist als einer der Scharfschützen identifiziert, die gezielt auf die Augen von Journalisten schossen. Sie sind da überlegt vorgegangen. Es ist eine neue Taktik, wir haben das vorher noch nicht gesehen und es gibt viele Opfer. (derStandard.at, 30.11.2011)