Die Schlange am Empfangsschalter ist am Mittwoch um acht Uhr früh keine zehn Mann lang. Weil es draußen nebelig kalt ist, haben alle ihre Mützen noch tief ins Gesicht gezogen. "Guten Morgen. Wollen Sie zu einem bestimmten Arzt", wird die freundliche Dame hinter dem Schalter gleich fragen. "Ist egal", hört sie.
"Ich komme immer eine gute halbe Stunde vor dem Termin, dann geht sich zeitlich alles wunderbar aus", erklärt ein zirka 50-Jähriger in Pudelhaube einem wesentlich Jüngerem hinter ihm. Der ist offenbar neu, wirkt gehetzt und bleibt es auch beim Warten im sonnig gelb gestrichenen Wartesaal. Die HIV-Ambulanz ist erst vor einem knappen halben Jahr nach "4süd" übersiedelt. 1100 Patienten kommen drei- bis viermal jährlich hierher zur Kontrolle. Krank sieht keiner der Männer heute aus.
"Wie geht es Ihnen", wird Florian Breitenecker jeden Einzelnen von ihnen fragen, sich beim lockeren Smalltalk die Patientendaten auf den Bildschirm holen und die Krankengeschichte durchlesen, während Pfleger Alex Riegler Blut abnimmt und in Röhrchen mit grünen, lila und roten Deckeln abfüllt. "Mir ist vom Atripla immer total schwindlig geworden, wie ein Vollrausch", wird ein schmaler 50-Jähriger erzählen, mit der neuen Therapie sei das aber weg. An seine durch eine Leukenzephalopathie (PML) verursachten Sehstörungen habe er sich gewöhnt, "das Hirn kompensiert diese Defizite, das ist erfreulich", antwortet Breitenecker. Hier wird ganz nüchtern und unaufgeregt über das HI-Virus und seine Folgen gesprochen. Die Patienten wissen Bescheid, kennen ihre Problematik, diskutieren Optionen. Zum Abschluss geht es um die zwei wichtigsten Parameter für HIV-Infizierte. Die Viruslast - "unter der Nachweisgrenze, das heißt, dass die neue Therapie bei ihnen wirkt", sagt Breitenecker - und auch der CD4-Wert, der über den Status des Immunsystems Auskunft gibt, sei "schön".
Messwerte kennen
Genau das ist beim nächsten Patienten nicht der Fall. "Mit CD4-Werten unter 350 empfehlen wir eine Therapie, Sie wären bereit, Ihr Wert liegt bei 200", eröffnet er einem 30-jährigen Mann mit silbernen Adidas-Flügelschuhen. So wie bei vielen steht MSM in der Patientenakte, "Men having sex with men" bedeutet es, und dieser junge Dunkelhaarige ist gekommen, um die notwendige Therapie zu besprechen. Breitenecker holt eine Box, um die Optionen zu demonstrieren: "Die praktischste Variante ist einmal täglich eine Tablette, nicht alle vertragen sie, eine Alternative ist einmal täglich drei oder vier Tabletten. "Wie lange muss ich die Tabletten schlucken", fragt der junge Flügelbeschuhte und wird beim Wort "lebenslang" erschrecken.
Noch immer kämpfen die Ärzte hier mit Vorurteilen gegen die Therapie: dass sie Durchfälle auslöst oder die gefürchtete Lipoatrophie, die HIV-Infizierte schnell wie den zerfurchten Iggy Pop aussehen lässt. "Das war früher, ist aber bei den neuen Therapien nicht mehr der Fall", erklären die HIV-Ärzte fast täglich. Am Ende jedes Gesprächs geht es hier auf einer HIV-Ambulanz immer um Sex: "Ja, nie ohne Kondome, weiß ich", und weg ist er. Er soll noch vor Weihnachten wiederkommen, um mit der Therapie zu starten
Im Zimmer gegenüber arbeitet Veronique Touzeau, die vor allem HIV-positive Frauen betreut. Heute ist eine junge Nigerianerin da. Sie wohnt im Frauenhaus, hat durch die HIV-Infektion eine schwere Enzephalitis, spricht nur schwer auf Medikamente an. "Sie ist eine besondere Patientin", sagt Touzeau mit französischem Akzent. "Do you want babys", wird sie sie mehrmals fragen, um jedwedes Risiko auszuschließen. Im vergangenen Jahr hat Touzeau 30 Schwangere betreut, rund die Hälfte aus ethnisch gemischten Beziehungen. "Die größten Dramen finden bei uns statt, wenn schwangere Frauen hier erfahren, dass ihre Partner bisexuell sind", erzählt sie. Auch ein MSM-Patient berichtet aus der Szene: "Am schlimmsten führen sich die bisexuellen Pseudo-Heteros auf, die nehmen keine Kondome."
Schlechtes Gewissen
Da stürzt eine junge Ärztin ins Behandlungszimmer, holt Breitenecker zu einem Patienten, der unbedingt eine sogenannte Postexpositionsprophylaxe (PEP) will, weil er am Vortag mit einer Prosituierten geschlafen hat, die eine kleine Wunde am Finger hatte und möglicherweise damit seinen Penis berührt hat. "Das haben wir oft, es ist schlechtes Gewissen", sagt Breitenecker und geht, Indikation für PEP ist diese Situation jedenfalls nicht, sind sich alle in der Ambulanz einig.
Plötzlich wird es hektisch. Auf Zimmer zwei ist eine verzweifelte Frau zusammengebrochen. "Ich kann nicht mehr, meine CD4-Werte passen, aber ich bin psychisch am Ende", weint die 50-Jährige, die seit 20 Jahren mit einem Mann aus Ruanda verheiratet ist. Er ist schwer krank, sie pflegt ihn. "Alles ist so negativ, ich halt es nicht mehr aus." Ärzte und Pfleger hören ihr zu, sie bekommt die Zuweisung für eine psychologische Beratung, muss darauf allerdings noch zwei Wochen warten.
"Junken Sie eigentlich noch?", fragt Breitenecker den nächsten Patienten. "Nein, seit fünf Jahren bin ich auf Methadon", sagt er. Er ist mit seiner Freundin da. "Wir nehmen immer Kondome", bestätigen beide. Trotz ihrer Fahrigkeit vermitteln beide den Eindruck, recht genau zu wissen, worum es geht. Aktuell laborieren sie an einer Hepatitis, und fürs Blutabnehmen wollen sie den Pfleger Alex, weil "er kriegt sogar bei unsern hinigen Gefäßen noch Blut raus".
In 4süd geht es irgendwie partnerschaftlich zu. "Er hat es gerne, wenn man ihm alle Befunde ausdruckt", weiß Breitenecker, einige Patienten sind Kontrollfreaks, was ihre Körperwerte betrifft. Die, die nicht reden wollen, werden in Ruhe gelassen. "Es ist familiär bei uns", sagt einer, dessen Diagnose bereits elf Jahre zurückliegt. Der nächste Patient ist 80 Jahre, hat HIV über eine Bluttransfusion bekommen. Diagnose 1993. Auf die Frage: "Wie geht's?" sagt er nur: "Was soll ich in dem Alter denn noch erwarten, aber es geht schon." Er ist das beste Beispiel, dass aus einer tödlichen Erkrankung eine chronische geworden ist, in der westlichen Welt.
Die 1100 Patienten am AKH 4süd werden von drei Ärzten betreut. Angestellt ist nur der junge Assistenzarzt, die erfahrenen HIV-Spezialisten sind über Geld aus der Pharmaindustrie finanziert. Beunruhigend daran: Je besser die Erkankung beherrschbar wird, umso weniger werden die Studien und dadurch die Drittmittel werden, langfristig ist die Betreuung nicht sichergestellt. "Heilung gibt's nicht?", fragt ein HIV-Positiver beim Kontrolltermin, der dank seines guten Immunsystems noch keine Therapie braucht. "Experimentell ist es gelungen, das HI-Virus auszuschleusen, aber es ist fraglich, ob wir so ein Medikament noch erleben", sagt Breintenecker.
Dann muss er weg, eine Frau im Nebenzimmer, die zu einer Hautuntersuchung da ist, blutet stark nach der Punktion. "Wir sehen uns in vier Monaten wieder und vergessen Sie nicht: Sie sind ansteckend. Kein Sex ohne Kondome." (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 1.12.2011)