Offizielle Ergebnisse gibt es zwar erst am Donnerstagabend, aber dass die Muslimbrüder die erste Runde der Parlamentswahlen gewinnen werden, ist klar. Aber auch die radikalen Islamisten mischen mit.
Kairo/Wien – Die ersten Wahlergebnisse, die am Mittwoch nach Abschluss der ersten Runde der Parlamentswahlen in Ägypten durchsickerten, wiesen auf einen klaren Sieg des islamistischen Lagers hin. Er könnte noch eindeutiger ausfallen, als Umfragen erwarten ließen. Die Schätzungen von Beobachtern gingen am Mittwoch bis zu 65 Prozent der Stimmen.
Die ägyptische Wahlkommission will die Ergebnisse am Donnerstagabend verkünden. In vielen Wahlbezirken dürften in einer Woche Stichwahlen stattfinden. Aber in etlichen Fällen werden sich die Wähler und Wählerinnen dabei zwischen einem gemäßigten und einem radikalen Islamisten entscheiden müssen.
Laut Al-Jazeera liegt die Partei der Muslimbrüder FJP (Freiheit und Gerechtigkeitspartei) mit rund 40 Prozent der Stimmen vorn. Das würde zirka dem Ergebnis der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien entsprechen. Allerdings haben in Ägypten nach ersten Schätzungen die rechts von der FJP stehenden Salafisten mit ihrer größten Partei Nur (Licht) weitere etwa acht Prozent gewonnen.
Von den im Ausland lebenden Ägyptern hätten sogar siebzig Prozent die Muslimbrüder-Partei gewählt, meldete der TV-Sender Al-Arabiya.
Da können die Säkularen – "zivil" genannt, weil "säkular" eine negative Konnotation hat – nicht mit: Der Ägyptische Block käme laut Al-Jazeera auf 15, die ebenfalls liberale Wafd, die keinem Bündnis angehört, auf acht Prozent. Andere Ergebnisse standen noch aus, etwa das des Blocks "Die Revolution dauert an".
Der Wahltermin 28. und 29. November war nur der erste von drei, die nächsten folgen Mitte Dezember und Anfang Jänner, jeweils zwei Tage mit ebenfalls zweitägigen Stichwahlen eine Woche später. Das heißt, es wird über einen Zeitraum von eineinhalb Monaten an zwölf Tagen gewählt. An jedem dieser Termine wählen neun der 27 ägyptischen Provinzen, Kairo und Alexandria waren beim ersten Termin dabei.
Genau das gleiche Prozedere gilt dann für die Ende Jänner beginnenden Wahlen für die Schura, die zweite Parlamentskammer. Die Wahlen werden also insgesamt erst Mitte März abgeschlossen sein, nach zusammengerechnet 24 Wahltagen.
Die Bekanntgabe von Wahlresultaten vor Abschluss der Gesamtwahlen wird als problematisch angesehen, denn es könnte die nächsten Wahlrunden beeinflussen. Der kurz auf den Wahltermin folgende Stichwahltermin macht jedoch eine Veröffentlichung nötig.
Die "Freiheit- und Gerechtigkeitspartei" der Muslimbrüder ist eine Neugründung nach dem Sturz von Hosni Mubarak im Februar, als Partei waren die Muslimbrüder ja verboten. Die behauptete Unabhängigkeit der FJP von der Brüderschaft ist jedoch eine Augenauswischerei: Ihre Führung wurde von den Muslimbrüdern bestellt, und alle Anhänger der Muslimbrüder wurden aufgefordert, ihr beizutreten.
Die eindrucksvolle Performance der Muslimbrüder ist ein Schlag ins Gesicht derer, die in der vergangenen Woche auf dem Tahrir-Platz gegen die Allmacht des Militärrats (Scaf) demonstrierten. Die Muslimbrüder hatten sich von diesen Demonstrationen ferngehalten, weil sie zuvor mit dem Scaf einen Deal abgeschlossen hatten – zu dem die pünktliche Abhaltung der Wahlen gehörte. Dafür macht das Militär Konzessionen bezüglich der Besetzung der Verfassungskommission, aus der es zuerst das Parlament – und damit die Islamisten – heraushalten wollte. Auch das wird den Säkularen nicht gefallen.
Der neue Premier Kamal Ganzoury verhandelt indes mit einzelnen Parteien, seiner Regierung ein "Beratungsgremium" zur Seite zu stellen. Wenn das eintritt, sind die Pläne für eine "Regierung der Nationalen Rettung", die die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz verlangen, ad acta gelegt. In Kairo griffen Schlägerbanden am Dienstagabend die auf dem Tahrir-Platz in Kairo kampierenden Demonstranten an. Dabei wurden dutzende Menschen verletzt.(DER STANDARD, Printausgabe, 1.12.2011)