Wie man es macht, wusste Mutti, macht man's verkehrt. Und raus aus seiner Haut kann man auch nie. Die "Süddeutschen Zeitung" schlug ich trotzdem sofort auf, obwohl ich geschworen hatte, mich aus Schul- und Bildungsfragen fürs Erste herauszuhalten. Aber wenn der Titel-Teaser einen Bericht über "Vorbildliche Schulen in Deutschland" ankündigt, dann sitze ich und kann nicht anders.

Erleichtert, weil es einmal nicht um die Elite geht

Ich bin erleichtert. Es geht nicht um die neuesten Leistungsförderideen für die Spitzentopelite, sondern darum, aus Schulversagern Kinder zu machen, die gerne lernen, darum, einen Kontrapunkt zu setzen zum blinden Leistungsfetischismus. Es geht, tatsächlich, um Gesamtschulen, in denen vor der achten Klasse nicht benotet wird, um integrierte Klassen, wo man lernt, dass es neben Wettbewerb so etwas wie Solidarität gibt, um kleine Lerngruppen und "jede Menge Musik- und Theaterangebote. Die Last des Lernens soll möglichst gering sein, die Freude an der Schule umso größer. Wer Angst hat, kann nicht gut lernen, davon sind sie an dieser Schule überzeugt." Und am Ende steht sogar ein Abitur, das nicht schlechter ist als eins vom Band. Prima.

Einerseits. Anderseits merke ich, wie sich der alte Affe Dialektik in mir meldet und sich fragt, ob das nicht auch schon wieder falsch ist; oder wenigstens weniger richtig, als es den Anschein hat. Magnus Klaue hat sich in "konkret" neulich die "Infantilisierung der Studenten" vor geknöpft, die den Bologna-Reformen habituell längst entgegen kämen und mit dem alten Ideal freier akademischer Selbstausbildung schon gar nichts mehr anfangen könnten: "Die Universität wird nicht mehr als ein Gegenort zu Schule und Elternhaus wahrgenommen, der zwar ebenfalls jede Menge Frustrationen bereithält, aber demjenigen, dem daran gelegen ist, doch die Möglichkeit eröffnet, der infantilen Fixierung auf Eltern und Lehrer (...) zu entrinnen. Im Gegenteil wird sie zur bloßen Verlängerung der Schule, auf deren schützende Autorität man sich zwar nicht mehr verlassen kann, deren Erbe man aber bis ins reife Alter mitschleppt. Seither häufen sich die Fälle, in denen die Eltern schlecht benoteter Studenten, oft durch diese überhaupt erst dazu animiert, bei Dozenten und Hochschullehrern vorstellig werden, um sich über die vermeintlich ungerechte Beurteilung zu beschweren."

Kann Entwicklung ohne Widerstand gelingen?

Was das nun mit den vorbildlichen Gesamtschulen zu tun hat? Immerhin so viel, dass Entwicklung ohne Widerstand nicht gelingen kann. Angstfrei lernen, wunderbar. Aber was, wenn es keinen Sinn hätte, sich über den gewalttätigen Charakter gegenwärtiger Gesellschaft mittels Notenfreiheit, Kleingruppen, Zirkuskursen und "Schüler-Logbüchern" hinweg zu mogeln? Was, wenn das reaktionär-polemische Wort von der "Kuschelpädagogik" eine Wahrheit hätte darin, dass jene dem Nachwuchs Verhältnisse vorspielte, in denen es auf Leistung, Einordnung und Unterwerfung nicht ankomme, und, ganz gegen die Absicht, kein freies, emanzipiertes Bewusstsein formte, sondern eines, dessen Widerstand nicht mit der Knute, sondern mit unermüdlichem Verständnis gebrochen wird?

Buddelkastenaufstand statt politischer Aktionen

Für Klaue, der, freilich von links, von "schlechter Integration" und "negativer Egalität" spricht, liegt es in dieser Logik, dass die Teilnehmer an Studentendemos "mit ihrer penetranten Beschwörung von 'Sesamstraße', 'Muppet Show', 'Mickey Mouse‘ und 'Momo' eher an einen Buddelkastenaufstand als an politische Aktionen erinnern. Sie sprechen die einzige Sprache, in der sie überhaupt noch denken können, und fordern 'Schutzräume' für das, was zu verlieren sie doch als Befreiung erkennen müssen: für die möglichst lebenslange Konservierung ihres im pubertären Infantilismus steckengebliebenen Sozialcharakters."

Mag der integrative Weg im Zweifel der bessere sein, weil auf einen, der im Widerstand gegen regelschulische Leistungsregime zur Persönlichkeit wird, fünf kommen mögen, die bloß scheitern, so bleibt doch die Frage, ob eine Schule schon deshalb eine gute ist, weil sie statt Verlierern Gewinner produziert. Denn Gewinner zeichnet meistens eines aus: dass sie einverstanden sind. Und von denen gibt's ja eigentlich genug. (Stefan Gärtner, derStandard.at, 2.12.2011)