Bild nicht mehr verfügbar.

Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan wurde in Deutschland rezeptfrei verkauft. In Österreich war es nur auf Rezept zu haben, doch das verhinderte Schäden an Ungeborenen nicht.

Foto: AP/Knippertz

Einer damals 34-jährigen Pharmakologin ist zu verdanken, dass es für schwangere Frauen in Österreich nicht so einfach wie in Deutschland war, an das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan zu kommen. Ingeborg Eichler hatte 1958 als Einzige in der Zulassungskommission für Arzneimittel ein Veto gegen den rezeptfreien Verkauf von Softenon, so der Handelsname von Contergan in Österreich, eingelegt. Ihr waren Widersprüche bei den Interpretationen der Tierversuche durch den Hersteller Grünenthal aufgefallen.

Eichler konnte sich in dem Gremium schließlich durchsetzen. Die Rezeptpflicht für Softenon dürfte der Grund sein, dass in Österreich weit weniger Contergan-geschädigte Kinder als im Nachbarstaat zur Welt kamen - und heute als Erwachsene an den Spätfolgen leiden. In Deutschland sind es 2650 Personen, während in Österreich offiziell nur 20 Menschen als Contergan-Opfer anerkannt sind.

Als Grünenthal das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan 1957 auf den deutschen Markt brachte, galt dieses als bahnbrechend. Es war barbituratfrei und half auch gegen Übelkeit. Deshalb wurde es vielen Schwangeren von Ärzten empfohlen - und das in Deutschland rezeptfrei erhältliche Medikament verkaufte sich bestens: 1960 war jedes zweite verkaufte Schlafmittel Contergan.

1958 kamen die ersten Kinder mit Missbildungen zur Welt. Damals wurde das Medikament bereits in 48 Ländern verkauft. Weltweit wurden 10.000 sogenannte Contergan-Babys geboren. Am 15. November 1961 griff der Hamburger Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz zum Telefonhörer und rief bei Grünenthal in Aachen an. Lenz forderte in dem Gespräch mit dem Forschungsleiter des Unternehmens, dass das Schlafmittel Contergan vom Markt genommen werden müsse, weil dieses seiner Ansicht nach schwere Missbildungen bei Neugeborenen hervorrufe. Erst nach Zeitungsberichten nahm Grünenthal am 27. November 1961 Contergan aus dem Handel.

Der Wirkstoff Thalidomid hemmt unter anderem VEGF, jenen Wachstumsfaktor, der in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft die Ausbildung der Arme und Beine des Kindes steuert. Bereits die Einnahme einer Tablette konnte schwere Missbildungen der Extremitäten, innerer Organe oder Nervenschäden hervorrufen. Thalidomid wird noch immer eingesetzt - etwa gegen eine bestimmte Form der Leukämie oder Lepra. In Brasilien hat die Regierung mittlerweile verboten, das Medikament an Frauen im gebärfähigen Alter abzugeben. Der Warnhinweis auf den Verpackungen - die durchgestrichene Silhouette einer Schwangeren - hatte eine fatale Wirkung: Analphabetinnen hielten das Medikament für die Pille und brachten missgebildete Kinder zu Welt. (Bettina Fernsebner-Kokert/DER STANDARD, Printausgabe, 5.12.2011)