Duell der törichten Wirklichkeitsverdränger: Napoleon steht unheildrohend vor der Tür, und der Draufgänger Dolochow (Fabian Krüger, Vordergrund) verzettelt sich in einem Duell.

Foto: Georg Soulek/Burgtheater

Des Burg-Direktors feine Inszenierung appelliert an das Kind im Tolstoi-Leser.

Wien - Mit der Premiere von Leo Tolstois Krieg und Frieden im Kasino des Wiener Burgtheaters wurde ein vermessener Anspruch endlich auf ein erträgliches Maß heruntergeschraubt: Es hat sich ausgebastelt. In den vergangenen zwei Jahren waren "öffentliche Proben" en masse ausgestellt worden, es wurden Probenkiebitze mit szenischen Wasserstandsmeldungen beglückt.

Heute währt Matthias Hartmanns Dramatisierung des dickleibigen Romans, die Pausen abgerechnet, knackige vier Stunden. Der inszenierende Burg-Direktor hat die Hauptfiguren mit flinken Fingern aus Tolstois Prosamassen herauspräpariert. Man wird am locker gelassenen Zügel durch das erste Buch geführt: Man schreibt das Jahr 1805 ff., Napoleon erhebt über dem Schlachtfeld von Austerlitz seinen schrecklichen Zweispitz, und die Petersburger Familien der Bolkonskijs, Rostows und Kuragins denken ein wenig leichtfertig über ihre Verheiratungspläne nach.

Et voilà: Sofort hat einen die Inszenierung am Schlafittchen. Hartmann kokettiert auf geradezu erpresserische Weise mit den Mitteln des "armen Theaters": Er und Ausstatter Johannes Schütz schieben ein paar grau lackierte Tische zu einem Bühnenlaufsteg zusammen. Fallen zwei der rund 50 Sessel, dann wurden ob der Enns (Feldzug 1805) gerade zwei Brücken abgerissen. Setzen sich des Zaren Marschkolonnen schwerfällig in Bewegung, dann hämmern die Fingerkuppen der 15 Mitwirkenden auf die Platten. Fällt Nieselregen auf die Erschlagenen herunter, wirbeln die Finger der Schauspieler im Wind.

Verfremdungseffekte

Die Inszenierung von Krieg und Frieden verquickt zwei bedeutende Vorzüge miteinander, ohne Tolstois Panorama-Malerei jemals unter Wert zu verkaufen oder sich klüger zu dünken als der russische Epiker. Sie bedient sich zum einen des Verfremdungseffekts. Die Schauspieler halten sich ihre Figuren etwa auf halber Armeslänge vom Leib, da sie die Beschreibungsprosa vielfach in die erste Person transponiert bekommen haben (Textfassung: Amely Joana Haag). Wunderbare Mimen stehen unablässig unter Selbstbeschreibungszwang: Das hält die Darstellungsweise flink und geschmeidig. Es erlaubt fliegende Rollenwechsel und nötigt zur Konzentration auf markante Umrisslinien.

Zum anderen setzt Hartmann hemmungslos auf die Kolportage, von der Tolstois Schwarte förmlich überquillt. In die Figur des vergrübelten Pierre Besuchow ist - an Stelle von Udo Samel - Gundars Abolins hineingeschlüpft: ein verdattertes Riesenbaby, aber auch die Stimme der Vernunft im Konzert der französelnden Gesellschaftsraubkatzen von St. Petersburg, voran Salongastgeberin Anna Petrowna (Sabine Haupt).

Wie ein Menetekel steht die jeweils abgehandelte Seite der Bergengruen-Ausgabe als weiße Projektion an der Kasino-Wand. Die Beteiligten hüpfen durch die Textgebirgsmassen vor und zurück: ein beherzter Ausflug in die reine Luft der Tolstoi'schen Geschichtsphilosophie. Mit deren Eigentümlichkeiten wird der Zuschauer nicht weiter gequält. Auch von den Gesamtzusammenhängen der Feindesabwehr im rückständigen Russland des Zaren Alexander muss man sich nicht besonders bekümmern lassen.

Wenn man nun doch den Zweispitz bis zum Boden vor Hartmanns Inszenierung abzieht, dann aus Bewunderung vor den Darstellern: vor Ignaz Kirchner, der den Fürsten Bolkonskij als weitschichtigen Verwandten von Thomas Bernhards Weltverbesserer auf die Bretter knallt.

Sein kahler Schädel flitzt wie eine Billardkugel zwischen sprödem Sohn (Peter Knaack) und bigotter Tochter (Haupt) hin und her. Kirchner erzählt die Geschichte eines einsamen Empfindlichen, der den törichten Säufern und Spielern in Petersburg den Rücken kehrt und seinen weichen Gemütskern hinter der Schale eines preußischen Pedanten versteckt hält. Plötzlich ist in Tolstoi der ganze Beckett schon im Keim enthalten.

Kaum genug loben kann man Stefanie Dvorak (als schöne Gesellschaftslöwin Hélène Kuragin), Oliver Masucci (als Anatol) oder Fabian Krüger (als Haudegen Dolochow). Sie alle springen auf die Tische wie auf Präsentierteller und strahlen mit den an die Wand projizierten Zinnsoldaten um die Wette. Ein paar Adventabende lang herrscht im Burg-Kasino die Logik des abgedunkelten Kinderzimmers: Nussknacker und Mäusekönig erwachen aus der Starre. Sie spielen Krieg und Frieden nach - und man klatscht begeistert in die Hände. 8Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 6. Dezember 2011)