Wenn EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier sein Archiv durchstöbert, könnte es passieren, dass er angesichts einer Entscheidung vom 6. Jänner 2006 in Wehklagen verfällt. An jenem Tag hat Barniers Vorgänger Charlie McCreevy einen Antrag des EU-Parlaments auf strengere Regulierung der Ratingagenturen abgelehnt. Die Kommission vertraute auf "Selbstregulierung" der Branche und sah keinen Bedarf für Eingriffe.

Das hat sich geändert. Seit 2009 versucht die EU die Arbeit der Rater in Bahnen zu lenken. Zwei Verordnungen wurden bisher erlassen, eine dritte vorgelegt, eine vierte ist in Diskussion. Trotzdem fordern zahllose Experten eine strengere Regulierung der Branche. Die Kritik rührt nicht zuletzt daher, dass die EU den Ratingagenturen bisher fast ausschließlich leicht zu erfüllende formale Vorschriften gemacht hat.

So müssen sich S&P, Moody's und Co seit 2010 in der EU registrieren lassen und dafür bestimmte Informationen (Eigentümer, Methoden) vorlegen. 28 Unternehmen haben sich bisher bei der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA angemeldet.

Ratingagenturen wurden zudem verpflichtet, einige Auflagen, etwa über die Zusammensetzung der Aufsichtsorgane, zu erfüllen. Sie müssen Staaten zwölf Stunden vor einem Downgrade vorwarnen. Inhaltliche Auflagen gibt es dagegen für die Rater kaum. "Die EUhat bürokratische Abläufe geschaffen und wenig reguliert" , kritisiert der Grüne EU-Parlamentarier Sven Giegold.

Das sehen inzwischen auch Aufseher so. Als eines der zentralen Probleme gilt, dass sich Länder zu sehr auf Ratings verlassen und sie in zahlreichen Gesetzen als Maßstab heranziehen. Der Europäische Rat für Finanzstabilität (FSB) hat daher im Oktober 2010 empfohlen solche Rückgriffe künftig einzuschränken. Doch die FSB kann nur Ratschläge abgeben.

Kurswechsel

Ein erster Kurswechsel der Kommission in der Sache deutete sich im November an, als Barnier eine neue Verordnung über die Regulierung der Branche vorlegte. Das zentrale Anliegen des Kommissars ist es den Wettbewerb im Markt mit einem Rotationsystem zu beleben. Unternehmen sollen künftig alle drei Jahre (große Akteure an den Finanzmärkten sogar jedes Jahr) die Ratingagentur wechseln müssen. Die ESMA soll zudem die Methoden der Agenturen inhaltlich überprüfen. Wenn ein Ratingunternehmen seine Bewertungskriterien ändert, müsste es die neuen Richtlinien der ESMA zur Genehmigung vorlegen.

Gegen die Barnier-Vorschläge kommt erstmals scharfe Kritik von den Ratern selbst: "Das Prüfungsrecht der ESMA wäre ein klarer Eingriff in unsere analytische Unabhängigkeit" , meint Torsten Hinrichs von Standard & Poor's. Hinrichs warnt davor, dass die ESMA alle Agenturen zu einer einheitlichen Arbeitsweise drängen könnte, "wodurch die Eigenständigkeit der Unternehmen verloren ginge." Das Rotationsystem hält er für nicht praktikabel, weil dadurch eine kontinuierliche Arbeit der Agenturen unmöglich werde.

Von anderer Seite heißt es, die Vorschläge Barniers gehen nicht weit genug. "Das große Problem ist, dass sich drei Ratingfirmen 90 Prozent des Marktes aufteilen. Da hilft das Rotationsystem allein wenig. Nur die Schaffung einer europäischen Ratingagentur könnte denWettbewerb stärken." Genau das lehnt die Kommission aber bisher ab. Offiziell heißt es, eine solche, mit staatlichen Geldern geförderte Agentur, würde wenig Glaubwürdigkeit am Markt genießen. (szi, DER STANDARD, Printausgabe, 7.12.2011)