Dreißig Jahre nach Titos Tod, im Mail 1980, werden seine Person und sein Werk neu bewertet.

Foto: INSTITUTE FOR RECENT HISTORY OF SERBI

Dreißig Jahre nach Titos Tod werden seine Person und sein Werk neu bewertet. Die populärwissenschaftlichen Publikationen setzten auf Sensation, die Geschichtsforschung auf Aufklärung und Neuinterpretation des vormals romantischen Tito-Bildes. daStandard.at sprach mit dem bosnischen Historiker Husnija Kamberović über die unterschiedlichen Zugänge und Bilder, die momentan im ex-jugoslawischen Raum vorherrschend sind.

daStandard.at: In den letzten zwei, drei Jahren gibt es im ex-jugoslawischen Raum vermehrt Publikation über Titos Leben und Werk. Wieso kehrt Tito zurück?

Kamberović: Es gab die Regelung, dass der Archivbestand erst dreißig Jahre nach seinem Tod geöffnet wird. Tito ist 1980 gestorben und so sind die Archive seit dem letzte Jahr alle offen. Nun ist alles zugänglich, was aus Titos-Kabinett hervorgegangen ist: Korrespondenz, Notizen, Projekte. Das Material ist sehr gut sortiert, etwa nach den Gebieten "nationale Frage", "Sprachpolitik" etc.

daStandard.at: Was sind die interessantesten Ergebnisse aus diesem Material?

Kamberović: Vor ein paar Jahren wurde in Belgrad etwas veröffentlicht, das man "Titos Tagebuch" genannt hat. Es umfasst die Periode von 1948 und 1949. Es ist aber, wie es auch im Vorwort steht, kein richtiges Tagebuch, sondern eher eine Skizze. Es ist sehr interessant weil es von Titos Angst vor der sowjetischen Invasion zeugt. Belgrad und Zagreb sind derzeit Vorreiter, was den neuen Blick auf Tito betrifft, aber Großteiles ist es ein revisionistischer Blick. Der Journalist Pero Simić veröffentlicht zum Beispiel sehr viel zum Thema Tito. Er war in den 1960er Jahren Jugendfunktionär in der Kommunistischen Partei. Später hat er die Politik verlassen und wurde Journalist. Er verwendet viel von dem erwähnten Archivmaterial, hat aber einen sehr selektiven Blick und einen sehr sensationalistischen Zugang. Sein Ziel ist es zu zeigen, dass Tito eine negative historische Gestalt war.

daStandard.at: Was sind seine Kritikpunkte?

Kamberović: Er will zeigen, dass Tito vor dem Zweiten Weltkrieg ein "gewöhnlicher Spion" war, der seine Mitstreiter verraten oder liquidiert hat und auf ihren Rücken seine politische Karriere gebaut hat. Ziel ist es auch zu zeigen, dass Tito nach dem Zweiten Weltkrieg antiserbische Politik betrieben hat. In Zagreb schreibt Zvonimir Despot sehr viel zu diesem Thema, oft auch zusammen mit Pero Simić. Diese beiden Autoren zitieren sehr viele Originaldokumente und bringen viele bisher unveröffentliche Fotos, die Tito in einem anderen Licht zeigen - weniger bescheiden nämlich. Da sieht man ihn etwa bei prunkvollen Empfängen oder sehr opulenten Neujahresfeiern.

daStandard.at: Gibt es auch größere gemeinsame Projekte aus der Region, die sich diesem Thema widmen?

Kamberović: Letztes Jahr gab es eine Konferenz in Belgrad mit Hilfe des Archivs Jugoslawiens. Daraus ist ein Sammelband hervorgegangen "Tito - Vidjenja i tumačenja" (Tito - Ansichten und Deutungen). Eine der MitautorInnen, Latinka Perović, hat über diesen Band gemeint, dass hier Tito endlich in die Geschichtsschreibung zurückkehrt, aber ohne Sensationalismus und Skandallust. In diesem Sammelband sind unterschiedlichste Interpretation vertreten, aber ohne Romantisierung von Titos Person, die zu seinen Lebzeiten allgegenwärtig war.

daStandard.at: Woran liegt das, dass Titos Person nun zunehmend Gegenstand seriöser Geschichtsforschung wird?

Kamberović: Ich glaube, dass die Zeit reif ist. Die Umstände in denen wir leben, erlauben nun einen objektiveren und nüchternen Zugang. Es war dumm zu glauben, dass Tito an allem, was uns in den 1990ern passiert ist, schuld sein soll und nach dieser Annahme, die Forschung auszurichten - die wissenschaftliche aber auch die populärwissenschaftliche. Diese Strömungen wird es aber auch in Zukunft geben. Sie versuchen unsere Vergangenheit zu "detitoisieren" und die gesamte Geschichte zu revidieren. Wenn man zum Beispiel in Serbien daran geht die Geschichte der Tschetnik-Bewegung neu zu schreiben, muss man Tito-Partisanen anders interpretieren.

Es gibt aber eigentlich keinen Grund mehr "Schuldige" zu suchen und Tito rein negativ zu bewerten. Er hat zwar ab den 1970er Jahren viele problematische Schritte gesetzt, aber der antifaschistische Kampf im Zweiten Weltkrieg und Titos "Nein" zu Stalin und Stalinismus waren richtige und wichtige Schritte für die gesamte europäische Geschichte. Kein ernsthafter Historiker kann das marginalisierten.

daStandard.at: Gibt es derzeit eine serbische, bosnische oder auch slowenische Interpretation bzw. Zugang zum Thema Tito?

Kamberović: Wenn wir zum Beispiel von Bosnien reden, kann man sagen, dass hier der sogenannte Titoismus sehr präsent ist. Die Menschen sind mit der heutigen Situation sehr unzufrieden und romantisieren ein wenig die Vergangenheit und die "gute alte Zeit". Anderseits haben aber Tito und seine Politik maßgeblich zur Weiterentwicklung von Bosnien und Herzegowina beigetragen. Viele seiner Mitstreiter waren der Meinung, dass Bosnien und Herzegowina keine gleichberechtigte föderative Republik innerhalb Jugoslawiens sein kann. Aber Tito hat widersprochen und wollte der Aufteilung zwischen Kroatien und Serbien nicht zustimmen.

daStandard.at: Wieso hat sich Tito für Bosnien und Herzegowina eingesetzt?

Kamberović: Tito hat eine entschiedenere Rolle in der Anerkennung der bosnischen Muslime als Nation gespielt. Er hat die Muslime natürlich gebraucht um seine Position innerhalb der Blockfreien-Bewegung zu stärken und günstig an Erdöl zu kommen. Das hat aber andererseits auch die Besonderheit Bosnien hervorgehoben und gestärkt. Als die beiden Zentren Zagreb und Belgrad immer stärker wurde, suchte Tito nach einem Ausgleich und fand ihn wohl in der Stärkung Bosniens und anderen peripheren Republiken Jugoslawiens.

daStandard.at: Gibt es innerhalb Bosniens und der Herzegowina einen Konsens über die positive Rolle Titos?

Kamberović: Nein, das würde ich nicht sagen. In Westherzegowina ist die Stimmung immer eine andere gewesen. Dort gab von Seite der Tito-Partisanen Morde an den Franziskanern und wegen dieses Traumas ist die Perspektive auf Tito eine andere. Erst ab 1965 versuch die jugoslawischen Kommunisten in der Westherzegowina nicht nur Feindesgebiet mit einer starken Ustascha-Vergangenheit zu sehen und entwickeln ein Konzept der Annährung. Aber auch das säkulare, kommunistische Konzept Titos ist nicht überall gut angekommen. (Olivera Stajić, 9. Dezember 2011, daStandard.at)