So viel Aufmerksamkeit ist er gar nicht gewohnt, der Kapitalismus. Kritik an ihm ist zur Mode geworden. Jahre konnte er in Ruhe seinen Dienst an der Menschheit leisten, viele von uns hat er reich gemacht. Den Menschen zu Beginn wie eine Maschine behandelt, auf die Umwelt einen Dreck gegeben. Über die Jahrhunderte hat sich das geändert. In den reichen Ländern müssen wir heute viel weniger arbeiten als früher und auch auf die Umwelt wird Acht gegeben. Die Probleme sind über die Jahre jedoch nicht weniger geworden. Was früher in die Flüsse geleitet wurde, landet heute in der Luft. Die neue Problematik nennt sich Klima und der Kapitalismus sträubt sich noch, auch hier nachzugeben. Die Erderwärmung ist in den reichen Ländern die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Ob wir auch sie im Kapitalismus lösen können, wird sich zeigen. Nichtsdestotrotz steht eines fest: Am falschen System liegen unsere Probleme nicht.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint

Es wirkt zugegeben nicht übertrieben edel, etwas nur des Geldes wegen zu tun. Doch was ist wichtiger: Absicht oder Konsequenz einer Handlung? Adam Smith, der Begründer der politischen Ökonomie, hat das Ende des 18. Jahrhunderts in etwa so ausgedrückt: Der Bäcker steht nicht jeden Morgen aus Nächstenliebe so früh auf, sondern weil er mit seinem Brot und seinen Semmeln Geld verdienen möchte. Dass gute Absichten alleine oft zu wenig sind, beweisen zahlreiche Beispiele aus der Gegenwart. So hat die deutsche Wochenzeitung Die Zeit Anfang November einen Artikel abgedruckt, indem der von Kleiderspenden aus Deutschland verursachte Schaden in armen Ländern beleuchtet wird. Die werden dort nämlich zu einem nicht unwesentlichen Teil billig verkauft. Die heimische Kleidungsindustrie kann mit solchen Preisen nicht mithalten. Die spendablen Deutschen zerstören trotz guter Absichten also die lokale Wirtschaft, Arbeitsplätze inklusive. Ob es da nicht klüger wäre, eher die Produktion im Land selbst zu fördern?

Geld muss klingeln...

Der Markt ist kein Wunderwuzzi, wie uns manch Neoliberaler weismachen will. Purer Egoismus führt nicht automatisch zu einem wünschenswerten Ergebnis; viele Unternehmen nutzen jede Möglichkeit um einen Cent mehr Gewinn zu machen. "Wo Geld klingelt, da herrscht die Hure", hat das Nietzsche einmal drastisch ausgedrückt. Wenn man sich ansieht, wie manch Konzern im Alltag agiert, dann hat der deutsche Philosoph vielleicht gar nicht so unrecht: Kartelle werden gebildet, der Konsument bewusst fehlinformiert oder Chemikalien in den Flüssen entsorgt. Doch diese Suppe kochen nicht nur die Firmen, auch die Konsumenten würzen kräftig nach. Um jeden Groschen wird gefeixt - der Erfolg der Diskonter spricht für sich. Wir halten also fest: sowohl in den Unternehmen als auch im Supermarkt sind Menschen am Werk. Menschen, die für einen Zehn-Prozent-Gutschein auf das Haarshampoo ihrer Wahl jedes Hundebaby ertränken würden. Ob daran das System schuld ist? Wohl kaum.

Jeder gegen jeden

Im Kapitalismus gilt "Mitgefühl als Willensschwäche" hat Gabor Steingart, der Chefredakteur des deutschen Handelsblatt, heuer geschrieben. Jeder gegen jeden und der Beste gewinnt. Das war nicht immer so. Der Mensch im Mittelalter würde über den Leistungsdrang der heutigen Gesellschaft wohl nur den Kopf schütteln. Im Laufe der Zeit hat er sich aus seinen feudalen Fesseln befreit; seit Mitte des 19. Jahrhunderts kann er in Österreich mehr oder weniger der Beschäftigung nachgehen, nach der ihm ist. Dabei führt der auf den ersten Blick harte Konkurrenzkampf im Wirtschaftsleben doch vor allem zu einem: Kooperation. Wir produzieren für den vielgescholtenen anonymen Markt. Der ist für romantisierende Autarkie-Fans in etwa das, was Kryptonit für Superman ist. Zu unrecht. Der Markt sorgt dafür, dass wir herstellen, was die Mitmenschen brauchen, und folglich kaufen wollen. Global gewährleistet der Kapitalismus also vor allem eines: den Frieden. Denn wer schießt schon gerne seinem Handelspartner den Kopf weg?

Rankings entscheiden

Unsere Gesellschaft wird heute gerne Leistungsgesellschaft genannt. Wer etwas leistet, der steht ganz oben in der Liste der kollektiven Wertschätzung und über das Ranking entscheidet - so propagiert es zumindest manch politische Strömung - der Markt. Wer viel verdient, leistet viel für uns alle. Wer sein Geld nicht vom Markt bezieht, hat in diesen Augen schon verloren. Beamte oder - noch viel schlimmer - Bezieher von Sozialhilfe? Dem Marktfetischisten kommt das Grausen. Dabei spricht nichts gegen eine Gesellschaft, in der man es durch Leistung nach oben schafft, Chancengleichheit vom Start weg vorausgesetzt. Wer nicht mitspielen möchte, muss das nicht. Niemand wird gezwungen, materielle Werte hochzuschätzen. Die neueste Kleidung, das coolste Auto, der größte Fernseher - wer darauf verzichten kann, braucht nicht sein ganzes Leben in der Fabrik verbringen. Suchst du nach Akzeptanz in einer materialistischen Welt, musst du dich nach ihren Werten richten. Wer an der Leistungsgesellschaft verzweifelt, und das machen mehr als ein paar Hippies, kann von seinen Mitmenschen aber kaum verlangen, dass diese ihren Wertekanon den fremden Befindlichkeiten anpassen. Wer im Leistungsmilieu Akzeptanz möchte, muss auch "leisten". Ist so, hilft nichts.

Löcher, wir brauchen mehr Löcher

Solange im Ausmaß von heute konsumiert wird, braucht es auch die Effizienzmaschine Kapitalismus. Im dritten Quartal 2011 hat die EU ein Leistungsbilanzdefizit von über 17 Milliarden Euro fabriziert . Wir kaufen deutlich mehr aus dem Ausland ein, als wir dorthin verkaufen. Von Genügsamkeit kann also keine Rede sein. Die Wirtschaft als Selbstzweck (Löcher graben des Löcher graben Willens)? Es sieht noch nicht danach aus. Der durchschnittliche Deutsche besitzt über 10.000 Dinge und die muss ihm erst einmal jemand herstellen.

Marktwirtschaft? Von wegen

Die Marktwirtschaft, die nicht nur dem Deutschen seinen Materialismus ermöglicht, baut auf Verantwortung auf. Wer Geld investiert und damit Risiko eingeht, muss dieses auch selber tragen. Dieses Prinzip wurde vor allem im Finanzsektor ausgehebelt - der Fehlregulierung sei Dank, die Finanzkrise lässt grüßen. Und auch Aktiengesellschaften sind so etwas wie die institutionalisierte Form der Verantwortungslosigkeit. Das Management haftet zu wenig selbst, die Besitzer in Gestalt der Aktionäre sind schneller wieder weg als das Unternehmen "öko" sagen kann.

Doch es gibt da nicht nur die Sache mit der Verantwortung. Marktwirtschaft heißt auch Wettbewerb. Der Wettbewerb der besten Ideen schafft Wohlstand und Fortschritt, zumindest in der Theorie. Heute neigen Großkonzerne dazu, den Wettbewerb systematisch auszuschalten. Die Konzerne werden viel zu groß, den legislativ verantwortlichen Politikern werden die Augen mit Dollarscheinen verbunden.

Des Rätsels Lösung

Es gibt also berechtigte Kritik, sowohl an Marktwirtschaft als auch an Kapitalismus. Erstere kümmert sich nur um Menschen mit Geld. Nur wer für etwas bezahlen kann, der kriegt es auch. Deshalb ist es wichtig, ein Versicherungssystem wie den Sozialstaat zu haben. Der Kapitalismus neigt dazu, auf alle Felder des Lebens überzugreifen. Er entwickelt seine eigene Logik. Das Kapital kontrolliert zunehmend wichtige Bereiche wie Demokratie oder Journalismus; sorgt man nicht für ein gewisses Maß an struktureller Gleichheit in einer Gesellschaft, pervertieren die Machtverhältnisse.

Doch beide Systeme, Marktwirtschaft und Kapitalismus, können funktionieren, wenn die in ihnen wirkenden Akteure gemeinsame Werte teilen, moralische Grenzen achten und ihr eigenes Handeln reflektieren. Wenn Solidarität abseits von romantisierten Wirtschaftssystemen herrscht, Schwachen geholfen wird und eine starke Zivilgesellschaft dem Kapital die Grenzen aufzeigt. Der Kapitalismus ist nicht so böse wie er gerne dargestellt wird. Eine Leistungsgesellschaft ist zumindest besser als eine Ständegesellschaft, auch wenn die heutige Welt der letzteren manchmal noch zu sehr ähnelt. Die Marktwirtschaft hat in der Vergangenheit eindrucksvoll bewiesen, was sie zu leisten vermag und dennoch steckt in ihr noch unglaubliches Potenzial.

Was wir brauchen, ist kein neues System. Wir müssen die Moral zurückgewinnen, den Groschen liegen lassen und das Hundebaby retten. (Leser-Kommentar, Andreas Sator, derStandard.at, 13.12.2011)