Präsident Putin ist derzeit in einer strategischen Zwickmühle und wird sich gegenüber den protestierenden Russinnen und Russen auch weiterhin einigermaßen handzahm geben müssen. Vor den Präsidentschaftswahlen im März kann er sich einen Eskalation auf den Straßen nicht leisten. Wieso es dennoch keine Aussicht auf einen baldigen politischen Wechsel in Russland gibt und der Rücktritt des russischen Parlamentspräsidenten nicht von großer Bedeutung ist, erklärt Politikwissenschafter Jerzy Maćków im Interview mit derStandard.at
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derStandard.at: Putins Partei hat trotz Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen massive Verluste erlitten. Wäre das Wahlergebnis ohne Fälschungen denn noch katastrophaler ausgefallen?
Maćków: Es ist ohnehin schon katastrophal genug. Wir haben keine Angaben darüber, an welcher Stelle die Fälschungen tatsächlich geschahen. Man kann ja allein durch den administrativen Druck den Wahlkampf so unfair gestalten, dass das eigentlich als Wahlfälschung einzustufen wäre. Oder es wird eben das Wahlergebnis per se "nachjustiert". Bis jetzt haben wir keine glaubwürdigen Aussagen darüber, dass die Stimmenzählung gefälscht worden ist, wenngleich wir davon ausgehen können, dass mancherorts die Zettel bereits in den Urnen waren, bevor die Wahlen gestartet haben.
derStandard.at: Glauben Sie, dass die Zustimmung für Putin, Medwedew und "Geeintes Russland" nach wie vor ungebrochen ist?
Maćków: Für russische Verhältnisse nicht. 30 bis 50 Prozent Unterstützung ist wenig für eine Partei, die realiter die einzige ist, die auf der politischen Bühne etwas bedeutet. Das heißt immerhin ja schon, dass diese Partei nicht mehr von der Mehrheit des Volkes unterstützt wird. Für eine de facto Monopol-Partei ist das sehr schlecht. Dass Putin und Medwedew das sogar öffentlich zugeben zeugt davon, dass sie die Wahl offensichtlich nicht nachträglich gegen die Stimmung im Lande fälschen wollten.
derStandard.at: Wie lassen sich der Aufschrei der Bevölkerung und die Proteste nach der Wahl erklären? Warum nicht schon davor?
Maćków:
Die neue Mittelschicht fühlt sich betrogen. Es ist ein Irrglaube
anzunehmen, dass arme Menschen gegen die Machthaber aufstehen. Die armen
Menschen gehen normalerweise nicht zur Wahl. In Russland ist die Mittelschicht
eine sehr kleine Gruppe im Vergleich zu
westlichen Gesellschaften. Sie umfasst je nach Region in etwa 10 bis 30 Prozent der Bevölkerung.
derStandard.at: Warum protestiert die Mittelschicht? Wegen mangelnder wählbarer Alternativen? Wegen dem Wahlergebnis?
Maćków:
Putin ist mittlerweile – in welcher Funktion auch immer – gut 10 Jahre an der
Macht. Als er an die Macht gekommen ist, ist er unglaublich populär geworden. Er konnte sich vom oft alkoholisierten, gebrechlichen Präsidenten Boris Jelzin, der dazu noch die in
ihn gesetzten Hoffnungen enttäuscht hatte, leicht absetzen. Die Russen haben beinahe traumatische
Erfahrung mit kränkelnden Führern. Das Land wurde schon
von Halbleichen wie z.B. Breschnew oder Tscherneko geführt. Putin verkörperte bis vor Kurzem Dynamik, Sportlichkeit, Jugendlichkeit, auch die "harte Hand" und der KGB-Ursprung kamen ihm in Russland entgegen. Darüberhinaus hat er von einer guten Wirtschaftskonjunktur gezehrt. Mittlerweile ist aber eine neue Generation
herangewachsen, die sich nicht mehr an
Jelzin erinnert. Diese Generation findet den politischen Zirkus, den Medwedew
und Putin seit Jahren veranstalten, einfach lächerlich. Es bedarf einer obrigkeitshörigen
und sehr unkritischen politischen Kultur, um sich von der plumpen Manipulation der "gelenkten Demokratie" beeindrucken zu lassen. Mittlerweile fallen nur mehr 30, vielleicht 40 Prozent der Wähler darauf herein.
Die
Protestierenden hingegen sind Menschen, die ihr Leben selbst gestalten wollen
und nicht auf Putin, den lieben Onkel, der ihnen möglicherweise das monatliche
Bahnfahrticket schenkt, angewiesen sind. Es sind Menschen, die sich über das
kleinwüchsige Duo an der Spitze des Staates einfach lustig machen. Menschen, die sich in ihrer Würde durch diese Art Herrschaftssystem verletzt fühlen.
derStandard.at: Während der Wahl gab es Cyberattacken und regierungskritische Websites wurden abgedreht. Werden soziale Medien und das Internet Putin noch zum Verhängnis werden?
Maćków: Ich habe bisher nie gehört, dass in Russland das Internet zensiert wird. Das war bisher das erste Mal, dass das so massiv und gezielt für politische Zwecke geschehen ist. Die Erfahrung aller Revolutionen und Proteste dieser Art in der Welt hat sehr viel mit den neuen Medien zu tun.
Putin zehrt neben seiner Popularität und den Rohstoffpreisen auf den Weltmärkten auch von den gleichgeschalteten Medien. Aber erfahrungsgemäß
gilt die Regel, wenn in etwa 30 Prozent der Bevölkerung Zugang zum Internet haben,
funktionieren die staatlich-gelenkten Medien nicht mehr als wirksames Instrument zur Beherrschung der öffentlichen Meinung.
derStandard.at: Putin und Medwedew versuchen nun die protestierende Bevölkerung zu beschwichtigen und kündigen eine Untersuchung der Wahlfälschungen an. Wollen beide die Proteste aussitzen?
Maćków:
Beide sind jetzt in der Defensive. Wahrscheinlich haben sie die gezählten
Wahlergebnisse der Parlamentswahlen nicht gefälscht, was schon ein Zeichen der Schwäche war. Denn sie
wissen, niemand würde glauben, dass sie 60 Prozent bekommen haben. Das zeugt
von dieser Defensiv-Haltung. Lukaschenko hat in einer ähnlichen Situation in Belarus die
Polizei auf die Demonstrierenden gehetzt und damit gezeigt, wer die Macht im Staat
hat. Er hat auch seine Gegner als Agenten des feindlichen Auslands zu verunglimpfen versucht. Putin kann das nicht in gleichem Maß tun,
weil er die Präsidentschaftswahlen erst vor sich hat. Er müsste also sein System der "gelenkten
Demokratie", das darauf beruht, dass man alle staatlichen Ressourcen für den Zaren einsetzen
darf, aber auch darauf, dass man die Menschen nicht bei jeder Gelegenheit verprügelt,
für tot erklären. Vor den Präsidentschaftswahlen wäre das sehr ungünstig.
Deshalb muss der russische Premier nun entscheiden, ob er die Präsidentschaftswahlen mit oder ohne Wahlbetrug gewinnen will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich von diesem Wahl-Schock schon soweit erholt hat, dass er diese Entscheidung bereits getroffen hat. Er muss auch sehen, ob es neue Konkurrenten geben wird.
derStandard.at: Der russische Milliardär Michail Prochorow hat sich jetzt in Stellung für die Präsidentschaftswahlen gebracht. Wie schätzen Sie seine Kandidatur ein? Ist das ein Mittel, um zu zeigen, dass die Opposition in Russland doch zugelassen wird?
Maćków: Die Regierenden sind in einer schwierigen Lage. Sie wollen nicht den Eindruck zerstören, dass sie die demokratischen Prinzipien wenigstens ein bisschen achten. Prochorow hat sich selbst ins Spiel gebracht, zumindest habe ich nicht gehört, dass seine Kandidatur in Wirklichkeit Teil eines abgekarteten Spiels ist. Wenn er jedoch tatsächlich ein autonomer Akteur ist, dann wird es für Putin sehr schwierig. Nicht weil er die Wahlen verlieren wird. Aber wenn es jemanden gibt, der viel Geld hat, dann steht Putin vor der Alternative: Entweder bekommt er besonders die regionalen Medien unter Kontrolle oder er akzeptiert den Umstand, dass sein Gegner ebenfalls die Öffentlichkeit erreichen kann. Übrigens auch über das Internet. Ich kenne Prochorows politische Positionierung nicht genau. Es ist trotz allem nicht auszuschließen, dass er ein Kreml-Kandidat ist, der die Opposition lediglich vortäuscht.
derStandard.at: Gestern ist der Parlamentspräsident und Putin-Vertraute Boris Gryslow zurückgetreten. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Maćków: Betrachtet man das im politischen Gesamtkontext, muss man anerkennen, dass Gryslow und das Amt des Parlamentspräsident relativ unwichtig sind. Daher würde ich auch seinen Rücktritt nicht überbwerten. Ob der Rücktritt Teil einer neuen politischen Strategie Putins ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilen.
derStandard.at: In welche Richtung kann sich das politische System in Russland denn in Zukunft entwickeln?
Maćków: Das hängt davon ab, wie stark sich eine echte Opposition wird etablieren können. Wird ein Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen tatsächlich mehr als 10 oder vielleicht sogar als 20 Prozent bekommen? Das "Putinsche" politische System zeichnete sich ja durch die vollkommene Verdrängung der politischen Opposition von der offiziellen politischen Bühne aus. In Russland gab es in den 90er Jahren immer ein Potential von 10 bis 15 Prozent für pro-westliche, demokratische Kräfte. Heute bekommen sie nur mehr zwei bis drei Prozent. Mit einer starken Opposition könnte sich der russische Autoritarismus in Richtung mehr Wettbewerb entwickeln. Käme irgendwann noch praktizierte Rechtstaatlichkeit hinzu, könnte man vielleicht in wenigen Jahrzehnten auf Demokratie hoffen.
Man muss sich auch die Frage stellen, wer Putin eigentlich irgendwann ersetzen könnte. So jemanden gibt es derzeit zweifellos nicht, auch nicht in der Opposition. (derStandard.at, 14.12.2011)