Anette Novak, Chefredakteurin der schwedischen Tageszeitung "Norran", war im Dezember auf Einladung des Österreichischen Presserates und des Kuratoriums für Journalistenausbildung in Wien.

Foto: Presserat/Atelier Citronenrot

Der Live-Chat, eEditor genannt, startet täglich um 6.00 Uhr in der Früh. Links werden die Themen, an denen die Redaktion arbeitet, kommuniziert. Rechts sind die neuesten Einträge zu sehen.

Foto: Screenshot/norran.se

Norran.se bildet die Schnittstelle zwischen Redaktion und Zeitung. Die Seite kommt laut eigenen Angaben auf rund 90.000 Unique User pro Monat.

Foto: Screenshot/norran.se

Die Zeitung, gegründet 1910, hat laut Chefredakteuerin Novak 60.000 Leser pro Ausgabe, was einer Reichweite von 78 Prozent in der Region Västerbotten entspricht.

Foto: Norran

"Auf die Macht der Community zu verzichten, ist ein Fehler im Journalismus", sagt Anette Novak, Chefredakteurin der schwedischen Tageszeitung "Norran". Novak übernahm im Jahr 2009 die Leitung des Regionalblattes mit Sitz in Skellefteå, um eine neue Ära von Transparenz zu etablieren. Herzstück ist ein offener Newsroom mit einem Live-Chat, wo die Themen des Tages kommuniziert werden. "Chatta med redaktören" heißt das auf schwedisch. Wie dieser Strategiewechsel den Journalismus - und die gesamte Region - beeinflusst, erklärt sie im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Seit Ihrer Ägide wird "Norran" als Paradebeispiel für gelungene User-Interaktion genannt. Wie ist es dazu gekommen?

Novak: Es gibt zwei Sachen, für die wir Anerkennung erhalten. Zum einen der offene Newsroom, den wir im Jahr 2009 installiert haben. Der zweite Punkt ist Community-Building. Das ist nicht im Sinne von Bürgerjournalismus zu verstehen. Wir lassen die Leute teilhaben, ohne dass sie sich als Journalisten betätigen. Einfach, um ihnen zuzuhören und um von ihrem Wissen zu profitieren. Wir zeigen ihnen via Chat, dem eEditor, täglich unsere Themenliste, die sie dann mit eigenen Vorschlägen ergänzen können. So holt sich die Redaktion Feedback ein, ob etwas vergessen wurde oder ob etwas uninteressant ist.

derStandard.at: Sie setzen auf Bürgerbeteiligung und nicht Bürgerjournalismus?

Novak: Formen von Bürgerjournalismus existieren ja schon seit langer Zeit. Die Debatte war immer, dass man auf diese Weise falschen Informationen Tür und Tor öffnet, sich für politische oder kommerzielle Interessen instrumentalisieren lässt. Wir wollen das Beste von beiden Welten vereinen, nämlich die Macht der Masse nützen.

derStandard.at: Geht da nicht die Kritikfähigkeit verloren?

Novak: Die Informationen, die wir von Lesern erhalten, werden nicht gleich veröffentlicht, sondern gefiltert, überprüft und nach journalistischen Kriterien verarbeitet. Wenn man als Medium seinen Newsroom öffnet, beginnt man eine Beziehung mit den Lesern. Zuvor hatten Medien das Informationsmonopol. Wir glaubten zu wissen, was die Leute interessiert. Jetzt hören wir ihnen wirklich zu.

derStandard.at: Wie funktioniert das in der Praxis?

Novak: Wir hatten zum Beispiel in unserer Region mit verseuchtem Wasser zu kämpfen. Jeder wurde krank, wir wussten nicht warum. Der Bürgermeister sagte, dass Bakterien im Trinkwasser verantwortlich seien. Unser Newsroom ist förmlich explodiert, hier haben sich der Ärger und die Angst der Leute entladen. Was hätten wir als Zeitung damals gemacht? Wir hätten uns in unseren Netzwerken auf die Suche nach betroffenen Leuten begeben, um darüber Geschichten zu schreiben. Jetzt haben in unserem Chat Vertreter aus dem Büro des Bürgermeisters die Fragen der Betroffenen beantwortet. Statt zu erraten, was die Leute darüber wissen wollen, hatten wir das live. Das war sehr effizient. Für die Printausgabe haben wir uns an den Fragen, die unter den Nägeln brannten, orientiert.

derStandard.at: Verbessert das die Qualität journalistischen Arbeitens?

Novak: Auf jeden Fall, denn je mehr Leute involviert sind, desto fruchtbarer ist das für die Qualität. Wir Journalisten haben uns lange für die besseren Kommunikatoren gehalten, aber die Masse weiß es immer genauer. In dem Fall mit dem verseuchten Trinkwasser geht es um Themen wie Gesundheit, Wasserversorgung und Umwelt. Jede Menge Expertise ist notwendig, um der Sache auf den Grund zu gehen. Experten haben uns wertvolle Tipps gegeben. Zusammen produzieren wir hochwertigeren Journalismus. Auf die Macht der Community zu verzichten, ist ein Fehler im Journalismus, ein Manko im Rechercheprozess.

derStandard.at: Wie sieht die tägliche Arbeit im Newsroom mit dem Chat aus?

Novak: Am Beginn hatten wir nur einen Redakteur, der sich um die Leute gekümmert hat. Jetzt sind es sechs Personen, die sich die Verantwortung teilen, aber auch andere Leute im Newsroom sind involviert. Gibt es eine Frage zu geschäftlichen Dingen, so beantworte ich diese. Geht es um Sport, rückt der Sportreporter aus.

derStandard.at: Ab wann geht der Live-Chat los?

Novak: Wir machen den Chat um 6.00 Uhr in der Früh auf und schließen gegen 23.00 Uhr. Von der Nachrichtenlage ist es dann abhängig, wie viel Zeit wir investieren können. Gibt es zum Beispiel ein Erdbeben, hat man viel Frequenz im Chatroom. Die Nachrichten haben aber Priorität. In so einem Fall schreiben wir den Leuten, dass wir uns jetzt auf die Produktion der Nachrichten konzentrieren müssen. Dann tauschen sich die User meist untereinander aus. Viele wünschen sich, dass der Chatroom die ganze Nacht zur Verfügung steht. Das braucht aber Ressourcen und wir können das nicht unbeaufsichtigt laufen lassen.

derStandard.at: Zeitlich ist dieser Aufwand mit so einem kleinen Team zu bewerkstelligen?

Novak: Wir bekommen so viel zurück. Zum Beispiel auch praktische Hilfe, wenn es um technische Probleme geht. Wir sind immer auf der Suche nach Fallbeispielen und schreiben dann in den Chatroom: "Kennt ihr jemanden, der das und das hat?" Und prompt haben wir einige Rückmeldungen. So gesehen ist das ein sehr effizientes Werkzeug.

derStandard.at: Wie viele User engagieren sich im Schnitt beim Nachrichtenprozess?

Novak: Nicht die Quantität ist entscheidend, es variiert sehr stark. Es kommt vor, dass sich stundenlang niemand rührt, es soll schließlich nur eine Option zur Partizipation sein. Wenn wir unsere Themenliste veröffentlichen, engagieren sich nur Leute, die eine Leidenschaft für das Thema haben. Es geht um die Qualität des Feedbacks.

derStandard.at: Von der Dimension her: sind es oft Hunderte im Chatroom?

Novak: Nein, nicht so viele. Ich lasse mir diese Zahlen nicht ausheben, die sind auch nicht so wichtig. Es gibt da eine gesellschaftliche Pyramide, die solche Prozesse erklärt. Ein Prozent der Leute kreieren etwas, neun Prozent kritisieren diesen Output oder arbeiten in irgendeiner Form damit weiter. Der Rest gehört zu den passiven Rezipienten. So läuft das auch bei uns ab.

derStandard.at: Für eine regionale Zeitung wie "Norran" ist dieser Schritt in Richtung Leserbeteiligung natürlich viel einfacher als für ein größeres Medienhaus?

Novak: Natürlich. Dieses Modell funktioniert im Kleinen am besten. Was passiert, wenn das Medien wie der "Guardian" mit 20 Millionen Lesern machen? Ein Tsunami an Informationen wäre die Folge und das könnte nicht einmal eine große Redaktion bewältigen. Dieser Schritt der Öffnung muss gut überlegt sein, denn wenn man sich dazu entschließt, müssen die Konsequenzen mitgetragen werden. Leute, die sich mit ihren Ideen beteiligen, wollen ein Feedback haben. Werden die ignoriert, geht der Schuss nach hinten los.

derStandard.at: Sie haben auch die Rolle von Journalisten neu definiert. Wie?

Novak: Die traditionelle Rolle des Journalisten war jene mit einem kritischen Blickwinkel, um herauszufinden, was bei Leuten, Geschäften oder Organisationen falsch läuft. Man hat immer eine Verschwörung, eine Täuschung vermutet. Meiner Meinung nach hat dieses Verhältnis die Beziehung zu unseren Lesern sehr lange sehr negativ beeinflusst. Wir verlieren unsere Position als alleiniger Nachrichtenverbreiter. Selbst wenn ich 500 Journalisten in meiner Zeitung beschäftigen würde, könnte ich nicht so schnell sein wie die Leute, die vor Ort sind und das auf Kanälen wie Twitter, Facebook oder Google verbreiten.

derStandard.at: Diese "Identitätskrise", wie Sie sagen, hat also zum Strategiewechsel geführt?

Novak: Wenn Google, Facebook etc. mehr relevante Informationen über meine Region haben als ich, welchen Wert haben wir dann als Medium noch? Wir müssen uns als Marke positionieren, der die Leute vertrauen, sonst können wir als Lokalzeitung zusperren. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir unseren Lesern nur die Rechnung fürs Abo geschickt und wenn wir sie wirklich einmal getroffen haben, sind wir ihnen mit einer kritischen Haltung begegnet. Früher oder später wären sie uns davonlaufen. Die Aufgabe war, eine so enge Beziehung zu ihnen aufzubauen, dass sie uns treu bleiben.

derStandard.at: Sollten Journalisten nicht eine Distanz zu den Objekten ihrer Berichterstattung haben?

Novak: Unsere Journalisten zu treffen, ist Teil der Marke. Wenn diese immer mit einer negativen Haltung kommen, verschlechtert das das Image der Zeitung. Wenn jemand sagt, wir müssen kritisch sein, weil das wichtig für unsere Glaubwürdigkeit ist, dann kann das nicht darin gipfeln, dass man alles schlecht macht und die Träume der Leute zerstört.

derStandard.at: Wie spiegelt sich das in Ihrer Berichterstattung wider?

Novak: Das Midsummer-Fest ist zum Beispiel ein großes Ereignis in Schweden. Alle feiern, was keinen Nachrichtenwert hat. In der Vergangenheit haben wir nicht über tanzende Leute berichtet, sondern über einen, der nach dem Fest betrunken mit dem Auto gefahren ist. Unsere Geschichte hätte in etwa gelautet: "Betrunkener Fahrer nach Midsummer-Fest". Das ist vielleicht einer von 50.000. Die anderen Leute, die einfach nur ausgelassen feiern, haben das nicht einmal registriert. Wenn wir kritischer berichten, als es in Wirklichkeit ist, dann verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit. Die Leute haben zu Recht das Gefühl, dass wir nur die dunkle Seite der Gesellschaft zeigen.

derStandard.at: Aber würden Sie nach wie vor über den betrunken Fahrer schreiben?

Novak: Ja, aber anders. Wir haben im Jahr 2009 unsere Vision geändert, indem wir die Leute zusammenbringen wollen, um die Region als solche zu stärken. Und das ist ein Standpunkt. Ist das objektiv oder neutral? Nein, aber ich behaupte, dass es keine regionale Zeitung gibt, die sich nicht für ihre Region einsetzt. Wenn 3.000 Leute ihre Arbeit verlieren, werden wir uns für sie einsetzen. Das heißt, die Solidarität war immer schon da, wir haben sie aber nie definiert und ihr zu selten Ausdruck verliehen.

derStandard.at: Wie ist das Verhältnis zwischen positiven und negativen Artikeln?

Novak: Ungefähr 70 Prozent unserer Nachrichten sind positiv oder neutral, 30 Prozent sind kritisch oder negativ. So ist das Verhältnis auch im Leben. Die meiste Zeit ist es schön, aber manchmal heißt es halt auch: "Shit happens." Und das soll sich dann in den Zeitungsberichten widerspiegeln, sonst wäre es nicht korrekt.

derStandard.at: Haben Sie vorher Ihre Mitarbeiter geschult, um die Maßnahmen implementieren zu können?

Novak: Ja, denn mit einem offenen Newsroom zu agieren, kann ein sehr schmerzhafter Prozess sein. Passt der Umgang unter den Mitarbeitern nicht, wirft das ein sehr schlechtes Licht auf die Zeitung. Man bekommt nicht immer nur die Zuckerseite präsentiert. Wie gehe ich mit verärgerten Lesern um, die sich über einen Artikel beschweren? Der Austausch via Chat ist ein anderer, weil die Körpersprache wegfällt. Wir mussten lernen, wie man Antworten formuliert. Im Chat wird oft sehr prägnant formuliert, das kann als Aggressivität ausgelegt werden. Ein wichtiger Schritt war, vorher die interne Kommunikation zu ändern, dann gelingt das extern schneller.

derStandard.at: Welchen Effekt haben Ihre "positiven" Nachrichten?

Novak: Wir befinden uns in einer Region, die mit vielen Herausforderungen konfrontiert ist. Unternehmen sind abgewandert, es fehlt an Infrastruktur, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Die Leute brauchen Hoffnung. Wenn wir dauernd über deprimierte Jugendliche schreiben, die keine Arbeit haben, werden die auch keine Jobs bekommen. Wenn eine Firma schließt, picken wir uns für eine Geschichte nicht stellvertretend einen heraus, der gerade seine Arbeit verloren hat und glaubt, dass sein Leben vorüber ist. Wir werden über jemanden schreiben, der zum Beispiel vor zwei Jahren seine Arbeit verloren hat und sich dann als Unternehmer selbstständig gemacht hat. Nach dem Motto: Es war das Beste, das mir passieren konnte.

derStandard.at: Wie reagieren die Leser auf diese Geschichten?

Novak: Die Reaktion der Community war erstaunlich, das hätte ich nie erwartet. Wenn du jemandem Hoffnung gibst, wird sich der gestärkt fühlen. Wir haben diese Macht. Das ist wie eine Spirale. Wir haben eine positive Art des Geschichten Erzählens kreiert. Und das wiederum kreiert Erfolg.

derStandard.at: Lässt sich der Erfolg in Zahlen gießen?

Novak: Bei meinem Start im Jahr 2009 mussten wir einen Verlust von 25 Prozent hinnehmen. Bei den Anzeigen brach der Immobilienbereich und Autosektor weg, weil wir kein gutes Werbeumfeld mehr waren. Die haben wir mit unserer Strategie zurückerobert. Wir sind bei den Anzeigen auf dem Level von 2008, das ist sehr gut. Unsere Leser hassten uns, jetzt lieben sie uns.

derStandard.at: Ihr Ziel ist es, eine bessere Welt zu erschaffen?

Novak: Ja.

derStandard.at: Wie viele Leser haben Sie?

Novak: 60.000 lesen die Zeitung und monatlich haben wir rund 90.000 Unique Visitors auf unserer Webseite. In unserer Region hat "Norran" eine Reichweite von 77 Prozent.

derStandard.at: Können Sie sich vorstellen, dass diese Leute dann als Bürgerjournalisten in Ihrer Zeitung schreiben?

Novak: In der Zukunft sicher. Nachdem jeder publizieren kann, wo ist die Grenze zum Journalismus? Meiner Meinung nach ist Journalismus eine Einstellung, die auch die gesamtgesellschaftliche Dimension vor Augen haben sollte. Am besten für den Journalismus ist es, an der Schnittstelle zu fungieren. Die Informationen aus der Bevölkerung zu sammeln und sie dann entsprechend professionell zu transportieren. Wir als Journalisten sollten nicht vortäuschen, neutral und objektiv zu sein, wir sind es nicht. Machen wir Verstrickungen transparent, nur so generieren wir Glaubwürdigkeit. (Oliver Mark, derStandard.at, 20.12.2011)