"Europas Politik ist ein Sauhaufen, wo niemand den Eindruck erweckt, konsequent zu handeln", sagt Unternehmer Klaus Woltron.

Foto: STANDARD / Cremer

"Ich sehe durchaus Parallelen zu den Dreißigerjahren: Wir haben eine präfaschistische Konstellation", sagt Ökonomin Gabriele Michalitsch.

Foto: STANDARD / Cremer

"Der Kern der Krise ist ein politischer Kampf zwischen den Staaten und dem Finanzkapital. Doch der Kurs der europäischen Politik läuft darauf hinaus, das Diktat der Finanzmärkte fortzuschreiben", sagt Michalitsch.

Foto: STANDARD / Cremer

"Das Kapital wird noch eine Zeitlang der Gott bleiben", prophezeiht Woltron.

Foto: STANDARD / Cremer

Standard: Europa - und damit auch Österreich - will kollektiv auf die Schuldenbremse steigen. Bringt uns das aus der Krise?

Michalitsch: Natürlich nicht. Der Kurs, den die EU-Staaten beim letzten Gipfel festgeschrieben haben, ist fatal. Er wird die Konjunktur in ohnehin schon schwierigen Zeiten abwürgen und die Kluft zwischen Arm und Reich weiter aufreißen. Der Schuldenabbau steht über allem, die Massenarbeitslosigkeit ist kein Thema.

Woltron: Die Entscheidungsmächtigen stehen derzeit aber unter dem Diktat des Möglichen, nicht des Wünschbaren. In Wahrheit ist die Geschichte einfach: Die Märkte haben Todesangst, dass sie ihr hergeborgtes Geld nicht zurückbekommen. Und warum ist das so, obwohl Japan und die USA höhere Schulden haben? Weil Europas Politik ein Sauhaufen ist, wo niemand den Eindruck erweckt, konsequent zu handeln. Also rennen die Anleger überall sonst hin - nur nicht zu denen, die dauernd diskutieren und nichts entscheiden. In dieser katastrophalen Situation ist die Schuldenbremse ein psychologisches Hilfsmittel, um die wankelmütigen Politiker, die sich nach jedem Wind drehen, halbwegs zu disziplinieren. Sie ist ein notwendiges Übel. Reduzieren wir unsere Schulden, können uns die Märkte weniger gängeln.

Standard: Die Märkte verlangten die Schuldenbremse, argumentiert auch die Regierung.

Michalitsch: Ich bezweifle, dass sich die Ratingagenturen davon beeindrucken lassen.

Woltron: Wenn man sich die Reaktionen auf den letzten EU-Gipfel ansieht: überhaupt nicht.

Michalitsch: Die Schuldenbremse ist nur ein Formalakt und könnte relativ beliebig mit Inhalt aufgefüllt werden. So starr ist das Ganze gar nicht - das wissen auch die sogenannten Märkte. Das eigentlich Bedenkliche ist das politische Generalziel dahinter: ein doktrinärer Sparkurs. Es ist völlig kurzsichtig, bei einer drohenden Rezession vorrangig Ausgaben zu kürzen. Das werden auch konservative Ökonomen bestätigen.

Woltron: Ich kenne diese Debatte aus meiner Zeit als Sanierer von Unternehmen, die in einer ähnlichen Misere waren wie heute Europa: Die Kapitalgeber wollten ständig Leut' rausschmeißen, die Betriebsräte warnten vor dem Kaputtsparen. Diese primitive Polarisierung geht mir auch jetzt auf die Nerven. Wir brauchen eine Mischform zwischen Investitionen und einem Riegel fürs Blödsinnmachen. Auf der einen Seite muss man die letzten Reserven dort reinbuttern, wo die Akupunkturpunkte der Belebung sind, auf der anderen die Ressourcenverschwendung abstellen. Da können sie in Österreich 30 Milliarden zusammenklauben, ohne dass Schlechtes passiert. Sparen muss ja nicht heißen, jemandem etwas wegzunehmen, man kann auch die Instrumente verbessern.

Michalitsch: Natürlich gibt es Potenzial zum Sparen. Doch das rüttelt an verfestigten Machtbeziehungen, die viele Reformen verhindern werden. Passieren wird daher das, wogegen sich wenige wehren können: Kürzung von Sozialleistungen. Deshalb braucht es höhere Einnahmen, aber nicht in Form von Verbrauchsteuern, sondern indem hohe Einkommen und Vermögen belastet werden.

Standard: Da würden Sie wohl zahlen, Herr Woltron. Haben Sie Verständnis für Vermögenssteuern?

Woltron: Österreich hat eine der höchsten Steuerquoten ...

Michalitsch: ... nicht auf Vermögen!

Woltron: Stimmt. Deshalb von mir aus: Wenn es eine moderate Steuer gibt, die nicht die Neidgenossenschaft unnötig anfacht, werde ich mich nicht verwehren. Es wird zwar nicht viel herauskommen, doch das Signal ist gut. Aber das Geld darf dann nicht einfach im Staatsapparat verdampfen - da kann ich es gleich in die Donau schmeißen. Den Politikern muss man deshalb brutale Grenzen setzen, sonst werden sie sich überall durchwinden.

Michalitsch: Grenzen müssten vor allem den Finanzmärkten gesetzt werden! Der erste und naheliegendste Schritt wäre, dass die Europäische Zentralbank die Versorgung mit Geld übernimmt.

Woltron: Kurzfristig halte auch ich das für den einzigen Weg zur Beruhigung. Wenn sich Griechenland, Portugal oder Italien aber nicht erholen und die Schulden runterbringen, wird auch der Zentralbank die Luft ausgehen.

Michalitsch: In der Folge muss das Wirkungsfeld der großen Finanzinstitutionen, die den Markt dominieren, massiv eingeschränkt werden. Doch leider sehe ich eher einen neoliberalen Abwehrkampf. Nach der Finanzkrise 2008, die ohne die enorme Liberalisierungs- und Privatisierungswelle der letzten 20 Jahre nicht denkbar gewesen wäre, hatte die Politik zwar kurzfristig ihr Primat zurückerobert. Doch die Bekenntnisse zur Regulierung des Finanzmarktes blieben größtenteils Rhetorik. Den Finanzinvestoren ist es gelungen, aus der Finanzkrise eine Staatskrise zu machen - nun gehen sie als Verursacher gestärkt hervor.

Woltron: Aber das ist ja nicht das erste Mal, Frau Doktor!

Michalitsch: Umso unfassbarer finde ich, dass sich unsere politische Vertretung das gefallen lässt.

Woltron: Oh nein, mich überrascht das gar nicht. Schauen Sie sich die Schlachtreihen an: Auf der einen Seite die Macht der Finanzindustrie mit einer ungeheuren Ballung von Intelligenz, Wissen, Kapital, Informationstechnologie. Das sind die bestausgebildeten, hochmotiviertesten und teilweise auch skrupellosesten Leute. Auf der anderen Seite steht das zornige, aber verwirrte Volk und davor die Politiker, über deren Selektion ich mich nicht weiter auslassen will. Wenn Sie mich fragen: ein Haufen Deppen, die erst übermorgen erkennen, was morgen passiert. Halte ich bei einem internationalen Unternehmen einen Vortrag, gibt es im Publikum 500-mal mehr graue Zellen pro Kubikzentimeter als in sehr vielen - nicht allen - Politikergehirnen.

Standard: Wenn die Köpfe der Finanzwirtschaft so genial sind, hätte es keine Krise geben dürfen.

Woltron: Na ja, es gab auch viele, die dabei Geld verdient haben. Gewollt war dieses Chaos nicht, das Ganze ist schon ein Wildwasser. Da gibt es gute Paddler und schlechte Paddler - unsere Politiker aber sind Floßfahrer.

Michalitsch: Um bei den Schlachtreihen zu bleiben: Der Kern der Krise ist ein politischer Kampf zwischen den Staaten und dem Finanzkapital. Doch der Kurs der europäischen Politik läuft darauf hinaus, das Diktat der Finanzmärkte fortzuschreiben. Dieses Herrschaftsgefüge stellt unser demokratisches, auf der Aufklärung basierendes System infrage.

Woltron: Massiv! Alles zerbröselt.

Michalitsch: Im Krisenland Italien können bereits viele Leute keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen einem autoritären und demokratischen System erkennen. Gleichzeitig werden sich die Gegenbewegungen verstärken und die Konflikte verschärfen, es drohen Streiks und politische Unruhen. Man sieht ja schon, wie hart die US-Behörden gegen "Occupy Wallstreet" vorgehen.

Woltron: Unsere ganze Lebensführung sei den Maßstäben der Marktökonomie unterworfen, die von den Interessen der Unternehmen beherrscht wird, haben Sie einmal geschrieben - und mir aus der Seele gesprochen. Doch wie befreie ich mich aus dem Netz der Spinne Geld? Ich selbst habe 50 Jahre gebraucht, mich von irgendwelchen Aufsichtsräten, die mir am Hintern vorbeigegangen sind, zu emanzipieren und mein eigener Herr zu werden. Immer wieder haben Gesellschaften versucht, sich aus der Zinsknechtschaft zu befreien - und stets ging es rechts oder links daneben. Ja, wir brauchen eine neue Ordnung, die unserer Marktökonomie wieder eine dienende Rolle gibt. Doch Patentrezept sehe ich keines.

Michalitsch: Dafür müsste man einmal mit dem Nachdenken beginnen. Doch das ist nicht erwünscht. Alternative wirtschaftswissenschaftliche Ansätze werden an den Universitäten nicht unterstützt, Lehrstühle abgeschafft.

Standard: Wohin wird das führen?

Woltron: In einen langen Leidensweg. Das Kapital wird noch eine Zeitlang der Gott bleiben, aber an sich bin ich optimistisch, dass beim Nachdenken tolle Sachen herauskommen. Das können aber nicht nur alte Krauderer wie ich tun, da müssen die jungen Gehirne mitmachen - Fensterscheiben einhauen bringt nichts. Wir dürfen in keinen kollektiven Fieberwahn verfallen, sonst werden sich irgendwelche Narren der desorientierten Massen bedienen.

Michalitsch: Ich fürchte eine tiefe Depression mit einem Rechtsruck als Folge. Die politischen Kämpfe drohen sich ebenso zu verschärfen wie die Spaltung der Gesellschaft, die Reichen werden sich in Ghettos zurückziehen. Ich sehe durchaus Parallelen zu den Dreißigerjahren: Wir haben eine präfaschistische Konstellation. (Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe 16.12.2011)