Bild nicht mehr verfügbar.

Demonstration in Wukan bei Lufeng, Provinz  Guangdong. Die Aufnahme aus einem Mobiltelefon soll am 15. Dezember 2011 entstanden sein

Foto: Reuters

Berichte über Proteste in China häufen sich in letzter Zeit.  Sinologie Felix Wemheuer erläutert im derStandard.at-Interview, warum trotzdem nicht zu erwarten ist, dass sich die Armee wie in Tunesien und Ägypten mit dem Volk gegen die Regierung verbündet. Die Fragen stellte Manuela Honsig-Erlenburg.

***

derStandard.at: In den vergangenen Monaten/Jahren hört man immer wieder Berichte von sozialen Unruhen – die Gründe sind verschieden: Landenteignungen, unzureichende Entschädigungen, Umweltverschmutzung, unbezahlte Löhne oder Polizeigewalt. Beim aktuellen Beispiel in einem südchinesischen Fischerdorf geht es um einen eskalierten Streit um Landverkäufe an ein großes Immobilienunternehmen. Was haben diese Unruhen gemeinsam?

Felix Wemheuer: Die große Gemeinsamkeit fehlt bisher, daher sind auch noch keine klassenübergreifenden und landesweiten Bewegungen entstanden. Die Kämpfe der Bauern gegen Landnahme sind eher defensiver Natur, weil sie fürchten, mit dem Land die letzte Sicherheit und Lebensgrundlage zu verlieren. Die junge Arbeiterschaft fordert hingegen in Streiks selbstbewusst Lohnerhöhungen von bis zu 30 Prozent, um in der Stadt leben zu können. Neue Eigentumswohnungsbesitzer wollen keine Chemiefabrik vor der Tür haben und werden im Internet aktiv usw. Es fehlt in China eine politische Kraft, die diese Unzufriedenheit bündeln könnte. Abgesehen von den Minderheiten-Regionen Xinjiang und Tibet sind die meisten Unruhen zwar über das ganze Land verteilt, aber lokal begrenzt. So werden z.B. Streiks in einer Fabrik häufig geduldet. Versuchen streikende Arbeiter allerdings das Werksgelände zu verlassen, müssen sie mit Verhaftungen rechnen.

derStandard.at: Häufen bzw. warum häufen sich die Fälle, in denen Chinesen sich gegen die Obrigkeit auflehnen?

Wemheuer: In den letzten Jahren haben sogenannte „Massenzwischenfälle“ (Streiks, Demonstration sowie kollektive Petitionen) enorm zugenommen. In Regel richten sich die Proteste aber gegen lokale Regierungen, die für Missstände verantwortlich gemacht werden. Der Mythos von der „guten Zentralregierung in Peking und den bösen lokalen Kadern“ ist immer noch weit verbreitet. Viele Protestierende hoffen, dass die Zentralregierung ihnen helfen könnte. Die Haltung in Peking ist allerdings zynisch. Lokale Beamte werden auch danach bewertet, ob sie Konflikte im Keim ersticken können. Wenn es jedoch zu gewalttätigen Unruhen kommt, inszeniert sich die Zentralregierung gerne als fairer „Schiedsrichter“ und präsentiert die lokalen Kader als Sündenböcke.

derStandard.at: Die Reaktionen aus Peking sind immer gleichbleibend restriktiv. Aus der Zentralkomitee-Abteilung für Politik und Recht kamen allerdings zum Beispiel moderatere Töne wie Rufe nach einem „Sozialen Management“ im Land. Wird sich in Zukunft in dieser Hinsicht was entwickeln?

Wemheuer: Die derzeitige Regierung unter Hu Jintao propagiert schon seit Jahren den Aufbau einer „harmonischen Gesellschaft“ als Form des Konfliktmanagements. Zum einem sollen Beamte die Forderungen des Volkes ernst nehmen, zum anderen können aber auch Protestierende bestraft werden, weil sie die „Harmonie“ gefährden. Das Bekenntnis der Regierung, in Stadt und Land Sozialstaat und Gesundheitsversorgung auszubauen, kann man als Reaktion auf die sozialen Unruhen der letzten Jahre sehen. Die Parteiführung weiß, dass sie mit Repressionen alleine die Stabilität des Landes nicht sichern kann.

derStandard.at: Wie groß ist die Gefahr von einer großflächigen Jasminrevolution, vor der sich Chinas Mächte fürchten?

Wemheuer: Das politische System unterscheidet sich von den Diktaturen der Familienclans in Nordafrika. China wird von gutausgebildeten Technokraten regiert und der regelmäßige Führungswechsel ist institutionalisiert. Seit Maos Zeiten wacht die Führung darüber, dass „die Partei die Gewehre“ kommandiert. Dass sich die Armee wie in Tunesien und Ägypten mit dem Volk gegen die Regierung verbündet, halte ich in China für unwahrscheinlich. Allerdings haben westliche Wissenschafter weder den Verfall der Sowjetunion noch die arabischen Revolutionen vorhersagen können. Meistens erkennt man erst, dass ein System die politische Legitimation verloren hat, wenn es fällt. (mhe, derStandard.at, 16.12.2011)