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"Habe mich entschieden, nie wieder etwas zu schreiben, was ich nicht denke": Norbert Bolz.

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Standard: Herr Bolz, Sie sind heuer mit dem Tractatus-Preis des Philosophicums Lech für philosophische Essayistik ausgezeichnet worden. Rüdiger Safranski, eines der drei Jurymitglieder, lobte Sie in der Urteilsbegründung als herausragenden philosophischen Zeitdiagnostiker. "Seine kontrovers diskutierten Bücher", sagt er, "reizen zum Widerspruch, Bolz scheut die Provokation nicht." Sie sind Kulturphilosoph, aber sind Sie auch ein Polemiker?

Norbert Bolz: Ich habe die Überzeugung gewonnen, dass Carl Schmitt, der seinerseits bös provokatorische Rechtsphilosoph, mit seiner These, dass jeder trennscharfe Begriff polemisch sei, Recht hat. Die geradezu antike Vorstellung, dass die Wahrheit im Streit steht, halte ich für sehr richtig. Wenn Sie sich auf eine begriffliche Arbeit einlassen, gewinnen die Begriffe sehr schnell polemischen Charakter.

Standard: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Glück - alles polemische Begriffe?

Bolz: Ja, das sind polemische Begriffe. Es gibt nur sehr wenige Begriffe, von denen man sagen könnte: Die sind keine Kampfbegriffe. Die meisten haben dieses kämpferische Moment in sich. Vielleicht unterscheide ich mich von anderen nur dadurch, dass mir das bewusst ist. Ich weiß, dass man seine Lanze ins Gefecht steckt, wenn man über ein Thema schreibt. Oder man ist langweilig.

Standard: Das heißt, die Provokation ist Bestandteil Ihrer Arbeit?

Bolz: Das werden Sie mir jetzt sicher nicht glauben, aber ich schreibe nicht, um zu provozieren. Im Gegenteil, ich bin immer wieder überrascht über die Reaktionen, die da von außen kommen. Das ist wahr.

Standard: Das überrascht wiederum mich. "Die ungeliebte Freiheit", "Die Helden der Familie" - alle Ihre Bücher gleichen Traktaten. In ihnen klingen Thesen, klar, entschlossen, Ihre Meinung steht von Anfang an fest, alles scheint in Stein gemeißelt.

Bolz: Ja, das stimmt, mein Stil ist thesenhaft.

Standard: Wieso verwundert Sie dann der darauf folgende Diskurs?

Bolz: Ich finde es schön, dass Sie von Diskurs sprechen. Aber es widerspricht total meiner eigenen Wahrnehmung. Meines Erachtens löst das, was ich schreibe, überhaupt keine Diskussionen aus, sondern wird a limine abgelehnt. Jede Rezension der seriösen Presse über meine Texte, alle waren totale Verrisse. Kein einziges meiner Bücher, egal, ob es von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen oder der Zeit kritisiert wurde, jedes wurde in der Luft zerfetzt. Bei Bolz sind sich alle einig, dass er eine Katastrophe ist und die Welt vor ihm bewahrt werden muss.

Standard: Das Gefühl, von allen abgelehnt zu werden, wie gehen Sie damit um?

Bolz: Nicht jeder - Gott sei Dank - orientiert sich am deutschen Feuilleton. Häufig kommen Leute auf mich zu und sagen: Sie sind ja gar nicht so schrecklich, wie ich mir das vorgestellt habe. - Vielleicht habe ich bei Ihnen ja auch das Glück.

Standard: Zu früh, darauf zu antworten. Wie erklären Sie sich diese Ablehnung rundum?

Bolz: Ich kann mir das selbst nicht ganz zusammenreimen. Aber noch einmal: Mein Antrieb ist nicht die Provokation. Wäre das so, hätte ich nie den Atem, einen Gedanken konsequent zu Ende zu denken.

Standard: Und was treibt Sie an?

Bolz: Ja. Es gibt nur eine Trenn- linie in meiner persönlichen Entwicklung: Als ich 50 Jahre alt geworden bin, habe ich mich dazu entschieden, nie wieder etwas zu schreiben, was ich nicht auch wirklich denke.

Standard: Was hat Ihr 50. Geburtstag damit zu tun?

Bolz: Der 50. Geburtstag, das ist für einen Mann eine Zäsur. Ich habe das erste Mal das Gefühl von Altwerden erlebt. Auf einmal ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich habe mich gefragt: Was hast du da eigentlich geschrieben? Du hast Bolz'sche Intelligenz mit dem gemixt, was die Leute wahrscheinlich gerne hören wollen. Das war schon auch gut, aber nicht das, was ich wirklich gedacht habe. Kurzum, ich habe aus Eitelkeit und auch, um ein öffentliches Standing zu bekommen, gefällig geschrieben.

Standard: So selbstkritisch? Es liegt mir fern, Sie trösten zu wollen, aber Sie haben auch vor Ihrem 50er Unbequemes geschrieben. Denken Sie an "Das konsumistische Manifest".

Bolz: Na ja, das lag aber schon kurz davor. Aber ich mache mir heute auch keine Vorwürfe deshalb: Denke, was du denkst, und sage es auch, selbst wenn dich alle anderen ausbuhen - das ist viel verlangt. Das muss man erst einmal ausprobiert und ertragen haben. Früher habe ich mir das nicht zugetraut. Nun schon. Und ich kann Ihnen sagen, es fühlt sich toll an. Die beste Entscheidung meines intellektuellen Lebens.

Standard: Wider die Gefälligkeit. Was hat sich seit diesem Entschluss verändert?

Bolz: Die Buhrufe gibt es nach wie vor und mehr denn je, aber ich erlebe, was ich früher nicht erlebt habe: Leute kommen zu mir und sagen "Wir sind froh, dass Sie so denken und auch den Mut haben, es klar zu sagen." Ich weiß, es gibt eine Menge Menschen, die so denken wie ich, aber es - ich hoffe, das klingt nicht arrogant - einfach nicht ausdrücken können.

Standard: Bolz als Vertreter jener Menschen, die ihrer Meinung nicht in aller Deutlichkeit Ausdruck verleihen können?

Bolz: Eigentlich schon. Wenn Sie an Das konsumistische Manifest denken, das war eine kleine Apologie der sprachlosen Konsumenten. Ich wollte sie in Schutz nehmen vor den intellektuellen Besserwissern, die sie in einer Art Staatspädagogik auf einen rechten Weg führen wollen. Bei meinem Familienbuch hat sich das ganz ähnlich verhalten.

Standard: In Ihrem letzten Buch "Die ungeliebte Freiheit" sagen Sie, wir seien Gefangene des Wohlfahrtsstaats. Die Freiheit ist unbeliebt, denn die Menschen fürchten, für ihr eigenes Schicksal selbst verantwortlich zu sein. Was fehlt, ist der Mut zur Selbstbestimmtheit?

Bolz: Das Buch ist eine Art Autobiografie. Ich bin im Grunde von der Kritik der Freiheit zur Freiheit selbst gekommen. Ich habe bemerkt, was das Leben wertvoll macht, ist untrennbar an Freiheit geknüpft. Aber Freiheit ist die schwerste Aufgabe, die es überhaupt gibt.

Als mir klar geworden ist, dass Freiheit irrsinnig anstrengend ist, habe ich verstanden, wieso sie so viele Gegner hat. Die verstecken sich allerdings alle hinter ganz harmlos klingenden Titeln wie zum Beispiel "Sicherheit" und "soziale Gerechtigkeit". Mein geistiges Fazit lautet: Freiheit ist eine große Passion.

Standard: Und an der mangelt es unserer Gesellschaft?

Bolz: Es gibt keine Freiheit mehr, oder wenn es sie gibt, nur auf der falschen Seite.

Standard: Was meinen Sie damit?

Bolz: In meinem Konsumismus-Buch lautet meine Antithese: Islamistischer Terror gegen die Dumpfbacken, die nur konsumieren. Die Dumpfbacken verteidige ich, die anderen halte ich für die größte Gefahr. Aber gleichzeitig beneide und bewundere ich die Islamisten, weil sie Leidenschaft haben, weil sie leben, und zu ihrem Leben gehört sogar noch, dass sie es aufs Spiel setzen.

Standard: Leidenschaft in ihrer negativsten Form.

Bolz: Das ist der Punkt. Die Leidenschaft ist dort noch wie im Mittelalter völlig vom Glauben absorbiert. Der Islam hat das Problem, dass er eine Weltreligion ist, die vor der Schwelle der Aufklärung stehen geblieben ist. Das können Sie überall schreiben: Der Islam ist nicht aufgeklärt. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der das bezweifelt. In Europa hingegen hat sich die Leidenschaft neue Betätigungsfelder gesucht. Die Vorstellung von Demokratie kam aus der Leidenschaft der Französischen Revolution heraus. Das gibt es in der islamischen Welt nicht und wird es auch nicht geben, solange der Islamismus herrscht.

Standard: Demnach profitiert Europa heute noch von seiner längst erloschenen Leidenschaft?

Bolz: Das ist meine Empfindung. Ich finde, so ist es. Bis zum Ersten Weltkrieg, gut 300 Jahre lang, hatten wir hier große Leidenschaft. Das war die Zeit, in der die moderne Welt aufgebaut worden ist. Das ist das Europa, auf das ich wahnsinnig stolz bin, aber mit Brüssel hat das genau nichts zu tun.

Standard: In einem Ihrer letzten Interviews sagten Sie, die Österreicher seien im Vergleich zu den Deutschen geistig freier. Wie kommen Sie darauf?

Bolz: Das ist meine Empfindung. Ich finde eure Knorrigkeit sympathisch. Ich finde sogar euren antipreußischen Affekt, selbst wenn er nur geschauspielert ist, ausgezeichnet. Das ist ein Widerstand gegen den Kult des Staates. Die Staatsgläubigkeit ist Deutschlands schlimmste Krankheit. Auch in Skandinavien, überall diese Unterwürfigkeit, der Staat ist im Grunde genommen der Gott der neuen Religion.

In Österreich habe ich das nie erlebt. Das ist nun keine Form von Souveränität, eher ein funktionales Äquivalent für Reife. Allerdings will ich nicht lobhudlerisch sagen, die Österreicher sind reif, aber die Österreicher sind wenigstens schnodderig. (Judith Hecht/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18. 12. 2011)