Wien - Das Schicksal jüdischer, von den Nationalsozialisten aus Österreich vertriebener Flüchtlinge war bereits Gegenstand verschiedener Forschungsprojekte, beispielsweise Friedrich Stadlers "Vertriebene Vernunft". Der renommierte, in Wien geborene Wissenschaftshistoriker und Physiker Gerald Holton von der Harvard University (USA) hat nun erstmals in der Studie "The Second Wave" untersucht was mit den vielen Kindern, die zum Teil mit ihren Eltern, zum Teil alleine in die USA emigrieren mussten, passiert ist, welche Karrieren sie gemacht haben und wie es ihnen mehr als 50 Jahre nach ihrer Vertreibung geht. Holton präsentierte erste Ergebnisse der Studie am Freitag bei dem Symposium "Österreich und der Nationalsozialismus - Die Folgen für die wissenschaftliche und humanistische Bildung" an der Uni Wien.

Auf Basis statistischer Analysen von US-Volkszählungsdaten hat Holton festgestellt, dass rund 26.000 Kinder und Jugendliche im Zeitraum von 1937 bis kurz nach dem Krieg - zum Teil über Zwischenstationen - auf der Flucht vor den Nationalsozialisten aus Österreich in die USA gekommen sind. "Uns interessierte, wie es diesen jungen Leuten gegangen ist, die meist ohne ein Wort Englisch zu können, ohne Geld, ohne abgeschlossene Ausbildung, zum Teil ohne Familie dafür aber mit schrecklichen Erinnerungen an Verfolgung und Vertreibung plötzlich in einem neuen Land leben mussten", erklärte Holton im Gespräch. Es sei dies die Generation der Walter Kohns und Eric Kandels (die beiden in Wien geborenen Nobelpreisträger nehmen an dem Symposium teil), wie diese beiden hätten viele der "zweiten Welle" Karriere gemacht.

Karrieren - These

Warum dies so war, dafür hat Holton eine Hypothese: "Es war eine Art chemischer Reaktion, in der europäische und amerikanische Kultur, Lebensstil und die Art zu denken und zu handeln kombiniert wurden, und die zu herausragenden Karrieren in einer überraschend hohen Zahl geführt hat." Holton konnte diese These in seinem seit zwei Jahren laufenden Forschungsprojekt anhand der Befragung von 6.000 Emigranten mittels Fragebögen und rund 100 Interviews bestätigen. Dabei haben die Wissenschafter den Bildungsstand sowie die Einkommenshöhe und die berufliche Position (zum Zeitpunkt 1970) der als Kind aus Österreich Vertriebenen abgefragt und deren Antworten mit einer Kontrollgruppe von US-Bürgern verglichen.

Dabei zeigte sich, dass 15 Prozent der befragten Amerikaner einen College-Abschluss (vierjähriges College) und acht Prozent einen darüber hinausgehenden höheren Uni-Abschluss hatten. Bei den ursprünglich aus Österreich stammenden Befragten hatten 51 Prozent ein College und 36 ein höheren Abschluss. Auf Grund dieser besseren Ausbildung konnten die Flüchtlinge ein "substanziell höheres Einkommen" erzielen, das fast doppelt so hoch war wie jenes der US-Bürger aus der Vergleichsgruppe. Außerdem hatten drei Viertel der Ex-Österreicher eine berufliche Top-Position erreicht, bei den Amerikanern war es nur jeder Zweite.

Zu bezahlender Preis

Für diese Karriere mussten die Flüchtlinge allerdings einen hohen Preis zahlen, sagte Holton. Sie hatten ihre Kindheit verloren, nicht nur auf Grund der traumatischen Erlebnisse, sondern auch wegen der Situation in den USA: Wenn auch die Eltern das Glück hatten, der Verfolgung durch das NS-Regime zu entkommen, waren sie vielfach doch gebrochene Menschen, die oft keine Chance hatten, ihren erlernten Beruf auszuüben bzw. arbeitslos waren. "So übernahmen die Kinder die Rolle ihrer Eltern und mussten für diese sorgen", erklärte der Historiker. Zudem habe man bei vielen Interviews festgestellt, dass die Emigranten seit Jahren an "Post Traumatic Stress Disorder" leiden. Holton: "Sie können mit ihren schrecklichen Erfahrungen ganz gut im Alltag umgehen, aber in der Nacht plagen sie die Alpträume."

Bei den Interviews habe man auch festgestellt, dass viele der Befragten "verstört über die Langsamkeit sind, mit der Österreich im Vergleich zu anderen Ländern sich seiner Geschichte stellt und diese aufarbeitet", sagte Holton. (APA)