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Bis Mitte Mai 1989 war Regimekritiker Václav Havel noch in Haft. Schon damals sei klar gewesen: "Ein Schneeball kommt ins Rollen, der zur Lawine wird.

Foto: AP / Petr David Josek)

Václav Havel war die zentrale Figur der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei. Alexandra Föderl-Schmid und Michael Kerbler erklärte er in Prag, wie stark der Zufall 1989 Regie führte und warum alles so rasch ablief.

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Föderl-Schmid: Wenn man sich die Umbruchbewegungen anschaut: In Polen hat es ein paar Jahre, in Ungarn ein paar Monate und in der damaligen DDR ein paar Wochen gedauert. Warum lief das in der Tschechoslowakei binnen Tagen ab?

Havel: Das hat wohl mehrere Ursachen. Eine davon kann sein, dass das kommunistische Regime hier am konservativsten von allen war. Wir waren ein Land, das okkupiert war seit 1968, es gab große Säuberungen, hunderttausende Leute mussten ihre Positionen verlassen. An die Macht ist im Gegensatz zu Ungarn und Polen die schlimmste Garnitur gekommen. Aber 1989 war klar: Früher oder später kommt ein Schneeball ins Rollen, der zur Lawine werden wird. Keiner wusste genau, wann das passiert. Aber dass es so kommen wird, war offensichtlich.

Kerbler: Waren Sie sicher, dass das positiv ausgeht?

Havel: Ich hatte häufiger Gespräche mit westlichen Journalisten. Die haben gesagt, dass die Bemühungen der Charta 77 und der unabhängigen Oppositionsgruppen hoffnungslos sind, wenn das nur ein paar Intellektuelle sind, und das Volk sich den Aktivitäten nicht anschließt. Ich habe den Journalisten, die am Sinn unserer Arbeit so gezweifelt haben, immer gesagt, vielleicht hält das Regime noch lange oder es wird sich ein kleines bisschen reformieren. Vielleicht wird das in wenigen Tagen ganz zusammenbrechen. Das konnte man gar nicht vorhersagen. Dank des Zusammenspiels von vielen unterschiedlichen Umständen war der Verlauf bei uns dann so schnell und so gewaltlos. Wobei man erwarten hätte können, dass es sehr konfrontativ werden kann. Aber das Regime war nicht einmal imstande, sich zu entscheiden, was man tun soll. Die geheime Sicherheitspolizei hat offenbar keine eindeutigen Befehle bekommen. Das Regime war in so einer großen inneren Krise, dass es nicht imstande war, diese Mittel zur Unterdrückung der Volksbewegung zu nutzen.

Kerbler: War das tatsächlich eine Samtene Revolution oder ein kommunistischer Coup, der deshalb inszeniert wurde, damit die Hardliner im Regime wegfallen, aber moderate Kommunisten auch in der nächsten Regierung sitzen?

Havel: Erstens glaube ich, dass die Gruppe der reformorientierten Kommunisten mit gewissen Idealen innerhalb der Macht fast gar nicht vorhanden war. Wenn es die gegeben hat, dann war das eine winzig kleine Menge. Die Macht bestand vor allem aus zynischen Leuten, die keine Ideale mehr hatten. Die ganze Wandlung im November hatte keinen Charakter eines gescheiterten Coups. Da würden wir das Regime sehr überschätzen. Das Regime war wirklich ratlos. Da war viel Zufall dabei und so viel Improvisation. Ich selbst war im Zentrum des Geschehens und muss immer lächeln, wenn ich die Theorie höre, wie das von hinten aus dirigiert und vorbereitet und abgesprochen war. Ich weiß nämlich, wie die Zufälle damals zusammengespielt haben. Alles war abhängig von so vielen Zufällen. Überhaupt scheint es mir, dass es in der Geschichte viel mehr Zufall gibt, als wir gewöhnt sind anzunehmen.

Föderl-Schmid: 2005 kam in Prag das Buch "Sieger? Verlierer?" heraus. Bei der Präsentation sagte der damalige KP-Chef Miloš Jakeš, die Kommunisten hätten 1989 überlegt, Sie zum Kulturminister zu machen, um der Unzufriedenheit in der Bevölkerung etwas entgegenzusetzen. Haben Sie davon gewusst?

Havel: Ich kann nicht ausschließen, dass bei irgendwelchen chaotischen Gesprächen irgendwo im ZK der kommunistischen Partei so was geäußert wurde. Aber so etwas war in der Tat nicht real. Ein Mensch, über den man noch vor einer Woche geschrieben hat, er sei Verräter der Nation und Feind der Nation – man hatte Angst, diesem Mann auf der Straße die Hand zu geben – , so eine Person kann doch nicht von einem Tag auf den anderen zum Kulturminister werden. Das hätte nur passieren könnten, wenn alles zusammengebrochen wäre.

Föderl-Schmid: Ihre größte Niederlage als Präsident bezeichneten Sie einmal den Zerfall der Tschechoslowakei 1992. Sehen Sie das noch so?

Havel: Wenn ich das heute mit dem Abstand von 18 Jahren sehe, glaube ich, dass ich keine besonderen Fehler begangen habe. Früher oder später hätte man sich doch voneinander getrennt. Es hat sich gezeigt, dass der gemeinsame Staat wohl nicht so ein festes Fundament hatte. Heute habe ich den Eindruck, es ist jedem egal, wir haben jetzt den gemeinsamen Lebensraum, die Europäische Union. Von diesem Standpunkt aus scheint es mir, dass es kein großes Unglück war. Es war wahrscheinlich sogar eine historische Notwendigkeit. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.4./1.5.2009)