"Wir sind keine Radikalen", sagt Düringer, wir sind die „Mittelschicht", die "Systemtrottel", diejenigen, die angelogen werden, die mit „geistigem Müll und Falschinformationen zugeschissen". Die auch, die es satt haben, dass „in der zweiten Reihe schon wieder die braunen Verführer warten und sich die Dummen greifen werden."

Von wem spricht da der selbst „eigentlich nicht wirklich wütende" Düringer? Bzw. von wem kann er überhaupt sprechen? Die Frage ist berechtigt, denn ursprünglich war mit dem Wutbürger etwas anderes gemeint. Geprägt wurde der Begriff durch einen Essay, der 2010 im deutschen „Spiegel" erschien. Also schrieb der Journalist Dirk Kurbjuweit: „Der Wutbürger [...] ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21".

Aber damit nicht genug. Laut einer politwissenschaftlichen Studie seien die Handlungsmotive der Bürgerproteste nicht allein von selbstlosen Sorgen geprägt, etwa um den Bestand von Fledermäusen, uralten Bäumen oder raren Biotopen. Vielmehr zeigen sich am wütendsten jene, die ihren eigenen Besitz, ihren eigenen Grund und Boden verteidigen. Oder wie es in der vom Politikwissenschaftler Franz Walter herausgegebenen Studie heißt: „Die Immobilienwerte stehen auf dem Spiel, wenn Stromleitungen und Windräder in einem bis dahin beschaulichen Kurort den Blick auf eine Caspar-David-Friedrich-Landschaft verstellen, wenn Flugzeuge die Ruhe der Anwohner empfindlichen zu stören drohen."

Hier klafft eine offenkundige Diskrepanz zwischen vermeintlich jugendlichen Socialmedia-Usern, die genug von der unübersehbaren Packelei zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessensvertretern haben, und Senioren, die mit Trillerpfeifen auf die Straße gehen, um einen aktivistisch-prickelnden dritten Frühling zu erleben. Es geht hier aber nicht um das Ausspielen von Stereotypen, sondern um die Frage, wie ernst man den Begriff des Wutbürgers tatsächlich nehmen muss.

Beide Begriffe haben etwas Verbindendes. Dafür muss man allerdings die Perspektive etwas verschieben (bzw. globalisieren). Denn auch der Wutbürger Düringscher Prägung ist ein Besitzender. Was oft nicht leicht erkennbar ist, weil Armut und Reichtum relative Phänomene sind, territorial begrenzt. Wer die Lebensverhältnisse außerhalb der Mauern Europas ansatzweise kennt, wer Slums zwischen Karthoum bis Karachi besucht hat, oder wer eine Ahnung davon hat, wie sehr die vielen Flüchtlinge, die alljährlich nach Europa strömen, selbst von der kargsten Existenz in unseren Breiten träumen, der versteht diese Relativität.

Will heißen: Selbst Lehrlinge, Studienanfänger oder „einfache Angestellte" hierzulande sind Besitzende. Denn sie verfügen über mehr Perspektiven und lebensweltliche Alternativen als zwei Drittel der Menschheit. Mindestens. Das Wutbürgertum ist also eine Art Wohlstandsprotest. Man kann es sich leisten, wütend zu sein. Auf der anderen Seite ist aber das Wutbürgertum ärmer dran als jede Protestbewegung zuvor. Denn spätestens seit Naomi Klein weiß jede Wutbürgerin, dass sich ihr Wohlstand etwa auch darauf gründet, dass sie billige T-Shirts tragen kann, die in chinesischen oder philippinischen Freihandelszonen unter erbärmlichsten Bedingungen gefertigt wurden. Aber das ist noch harmlos. Sie weiß auch, dass, wenn heute 100.000 Menschen in Österreich auf die Straße gehen, morgen eventuell die Börsen darauf reagieren und übermorgen vielleicht sogar Österreichs Triple-A-Rating auf dem Spiel steht. Die aufgeklärte Traumbürgerin weiß also, dass sie hoffnungslos mit diesem System verstrickt ist. Woraus die gegenwärtige Ohnmacht zu großen Teilen auch resultiert. Denn je mehr wir davon sprechen, dass das ganze System falsch ist, desto mehr ist klar, dass es nicht reicht, irgendwo ein Paar Konzernchefs oder Politiker zu entlassen. Nein, wir müssen unsere gesamte Lebenswelt umkrempeln, ergo unsere eigene Zukunft steht auf dem Spiel. Und zwar unmittelbarer als je zuvor. Düringer beschreibt das gut mit der Idee, bei der nächsten Wahl einen Zettel abzugeben, auf dem bloß „Gültige Stimme" steht. Das ist das aktuelle Gefühl. Man lehnt alle bestehenden Alternative ab. Hat aber selbst keinen Plan. Woher auch?

Aber das ist das eigentliche Problem. Alles was bisher zur Problemanalyse angeführt wurde, ist im Grunde uninteressant, dazu hat überdies jeder seine eigene Deutung. Wirklich entscheidend ist, was man mit dieser, mit unserer Wut machen kann. Anders als Düringer ist eine Parteigründung nicht auszuschließen. Alles erscheint sinnvoll, was ein Engagement oder ein aktives Tun inkludiert. Ob es das Engagement für eine Hilfsorganisation ist, der Boykott eine Handelskette oder offene Demonstrationen auf der Straße. (Warum nicht, so schnell ist das Triple A Rating dann auch nicht weg.)

Aber vermutlich reicht das nicht. Was wir in Zukunft brauchen sind konkrete Vorschläge, die unsere Wut kanalisieren können. Genau daran wird sich auch zeigen, welche Art von Wutbürger jeder von uns ist. Diejenigen, die auch weiterhin in diversen Socialmedia-Netzwerken sitzen und meckern, wie schlimm alles ist, die werden die besitzstarren Wutbürger mit der Trillerpfeife bleiben. Wer es wirklich ernst meint mit seiner Wut, der stellt sich dem Gedanken, dass er (bzw. sie) wirklich etwas bewegen sollte - selbst wenn das den eigenen Wohlstand, die eigenen Möglichkeiten, die eigene Sicherheit bedroht. (Konrad Gregor, DER STANDARD; Printausgabe, 22.12.2011)