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"Schuman-Parade" in Warschau. Robert Schuman war einer der "Gründerväter" der EU.

Foto: EPA/PAP/Przemek Wierzchowski
Einer der diesjährigen Fellows im Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können, um die transatlantische Diskussion in Wien zu beleben: der Soziologe Natan Sznaider, der sich wiederholt mit unorthodoxen, provokanten Meinungen zum Thema gemeldet hat. Geboren 1954 in Mannheim, studierte Sznaider in Israel und an der New Yorker Columbia University, wo er über das Thema Mitleid promovierte – kein Empiriker, sondern, so sagt er, an Simmel und Elias orientiert, theoretisch und historisch interessiert. Das Gespräch beginnt dennoch mit einem Stück Empirie, einem Zitat, das die Europa-USA-Debatte streift und zugleich an ihrem Kern rührt.

Standard: In einem kürzlich in der Zeit veröffentlichten Artikel sagen Sie unter anderem: „Öl als Sesam öffne dich. Schwer zu verstehen, warum dieses Wort immer mit erotisch verklärtem Blick ausgesprochen wird. Wer Öl sagt, kann sich schick antiimperialistisch und antiglobal gebärden. Noch mehr reizt das pure Wort. Öl ist Geld. Und Geld ist böse, ist Entfremdung und typisch jüdisch. Es ist nie schwer gefallen, diesen Entfremder zu personalisieren.“ Aus dem Gesagten, scheint mir, folgt für Sie, dass übers Öl zu reden schon etwas Antisemitisches an sich hat. Das finde ich umso merkwürdiger, als gerade Öl, gerade in Amerika, ein Business ist, über das man vieles sagen kann, aber nicht, dass es jüdisch dominiert ist. Was wollen Sie also damit aussagen?
Sznaider: Ich habe nur gesagt, dass es solche Phantasien bei den Anti-Amerikanern gibt. Es ist dasselbe Argument, wie dass die Medien in den USA jüdisch dominiert sind.

Standard: Ich glaube, Sie spielen damit Leuten in die Hände, die eine wirklich legitime Kritik gar nicht wünschen. Man kann ja das Erdöl ganz ohne „Erotik“ als materielles Argument in die Diskussion führen und dadurch Amerika auch wirklich kritisieren.
Sznaider: Meiner Meinung nach ist das ein Mogelpaket und deutet auf Unverständnis von Politik hin. Es ist ein altes linkes Argument, dass man Politik auf Wirtschaft reduziert und glaubt, damit den Schlüssel zur Welt geschaffen zu haben. Abgesehen davon ist das Argument, dass Amerika Krieg wegen Öl führt ungefähr genau so klug, als ob man sagen würde, sie führen es wegen Schweizer Käse.

Standard: Man kann aber die Wirtschaft andererseits nicht wegeskamotieren und sagen: Reden wir lieber vom Vorsehungsgedanken ....
Sznaider: Es ist das alte leninistische Argument über den Imperialismus, das praktisch durch die Hintertür wieder reinkommt.

Standard: Also ich glaube, dass Menschen ihre wirtschaftlichen Interessen wahrnehmen – dafür brauche ich keinen Lenin, dafür kann ich Francois Villon oder Jesus oder sonstige Leute zitieren und nicht nur einen dogmatischen Buhmann.
Sznaider: Das stimmt. Dafür braucht es keinen Lenin. Es ist einfach nichtssagend. So, Menschen verfolgen ihre Interessen. Na und? Dahinter steckt ja auch das Argument, dass Politiker „Heilige“ sein müssen. Deshalb war mein Zeit-Artikel auch eine Reaktion auf den Spiegel-Titel „Blut für Öl“. Diesem Argument wollte ich entgegentreten und dem Spiegel einen Spiegel vorhalten, was sich dahinter verbirgt. Man merkt diese leicht antisemitischen Argumente auch bei Diskussionen über die „Ostküstenanwälte“, die Reparationszahlungen usw. Das heißt aber nicht, dass man über die Ölfrage nicht streiten könnte. Ich glaube, dass die diversen Cheneys bessere Mittel haben, den Ölpreis zu manipulieren, als im Irak einzumarschieren. Ich finde das Argument einfach doof. Dahinter stecken tiefe Ressentiments, die man in Deutschland, vielleicht auch in Österreich, gegen Amerika hat: Das hat wohl immer noch mit dem noch nicht überwundenen Jahr 1945 zu tun.

Standard: Ist das nicht eher auf eine Generation bezogen, die schon nicht mehr am Ruder ist?
Sznaider: Nein, ich sehe gerade in der 68er-Generation das große Problem. Sie haben ja sozusagen „die Lehren aus der Vergangenheit gezogen“ und verstehen sich als Antifaschisten, und gerade die bringen diese neue nationalen antiamerikanischen Argumente mit reinem Gewissen wieder zurück in den Diskurs. Ich sehe sie als die eigentlich Schlimmen.

Standard: Was in den Debatten auffällt, ist, wie sehr und wie immer stärker Amerika – und nicht Israel – zum Gelobten Land für die Juden wird, und nur Amerika, glauben sie, könne gegen den Antisemitismus schützen, der aus Europa kommt.
Sznaider: Das sehe ich auch so. Bei den jetzigen Tendenzen eines sich global formierenden Antisemitismus und Anti-Israelismus sind die Amerikaner die einzigen, die sich noch für Israel engagieren. Israel hat die europäische Linke für sich verloren, und das hat nicht nur mit Israels Politik zu tun. Das geht tiefer, und ich glaube auch nicht, dass sich das in den nächsten Jahren ändern wird.

Standard: Wenn aber jetzt Leute wie Habermas – oder auch verschiedene amerikanische, auch jüdisch-amerikanische Intellektuelle – sagen: Das geht nicht, wir können uns nicht über das Völkerrecht hinwegsetzen (wie das 1945 zum Maßstab für die internationale Rechtsordnung festgelegt und bei der reeducation beigebracht wurde), wenn sie also das sagen, dann wird das als ressentimentgeladen oder ähnliches gedeutet.
Sznaider: So einfach ist das nicht. Das Völkerrecht ist ja kein abgeschlossenes Paket. Gehen wir in medias res. Gerade wenn man sich die Termini „Verbrechen gegen die Menschheit“ und „Angriffskrieg“ anschaut: Die stehen in gewissem Sinn im Widerspruch zueinander. Das Angriffskrieg-Argument schützt die territoriale Souveränität von Nationalstaaten, und so war das Völkerrecht bis 1945 auch konzipiert. Es war ein recht nicht der Individuen, sondern der Völker, a law of nations. Eine sehr europäische Grundauffassung.

Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg hat eine neue Art von Verbrechen in die internationale Rechtsdiskussion gebracht, und das ist das Verbrechen gegen die Menschheit. Das bedeutet, dass Verbrechen, die ein Staat gegen seine eigenen Bürger begeht, plötzlich nicht mehr legal sind. Das heißt also, dass das positive Recht gebrochen wird und dass es ein neues Rechtsverständnis gibt – dass die nationale Souveränität von Staaten außer Kraft gesetzt werden kann. Dass Individuen geschützt werden, ist das Prinzip der Menschenrechte, die sich auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts konstituiert haben. Daraus ergibt sich auch ein neues Verständnis für das Völkerrecht, das eben kein „Völkerrecht“ mehr ist, sondern sich auf ein „Menschenrechtsregime“ zu bewegt.

Standard: Ein Thema, das die USA und die EU entzweit: der Weg zum Frieden im Nahost. Nachdem das Saddam-Hussein-Regime beseitigt wurde, meinen Sie nicht, dass Sharon ein Hindernis auf diesem Weg ist?
Sznaider: Kann sein, kann auch nicht sein. Ich hab ihn nicht gewählt, aber er ist von einer Mehrheit der Israelis gewählt worden, und ich meine, sie haben gewusst, warum sie ihn wählen. Ich glaube, wenn jemand in Israel imstande ist, den Friedensprozess voranzubringen, dann ist es er, gerade aus dem heraus, was er ist. Israelis sind einfach vorsichtiger geworden, ja mussten es werden. Es geht nicht nur mehr darum, wie bereit man ist, Kompromisse einzugehen, als ob der ganze Schlamassel nur von uns abhängen würde. Die andere Seite hat auch ihre Vorstellungen, und es gibt eben eine militante Gruppe auf der anderen Seite, die nicht anderes im Kopf hat als die Zerstörung Israels. Das muss man einfach mitberücksichtigen, wenn man nicht nur gesinnungsethische, sondern auch verantwortungsethische Politik betreibt. Und das gilt nicht nur für Israel. Auch die Europäer müssen lernen, daß sie die Verantwortung nicht nur Amerika überlassen können.

Sehen Sie, wenn es jetzt eine Annäherung zwischen den Israelis und den Palästinensern gibt, wenn also die sogenannte „road map“ wirklich auf den Weg kommt, dann hat auch mit dem amerikanischen Sieg im Irak zu tun. Dadurch hat sich die gesammte geopolitische Situation auch im Nahen Osten geändert. Mit dem Irak ist einer der größten Feinde Israels gefallen, damit die Situation für Israelis sicherer geworden. Die Gasmasken kann man jetzt erst mal einmotten. Solche geopolitische Situation schaffen neuer Vorraussetzungen für Friedensverhandlungen. Das ist das, was man in Europa anfangen sollte zu lernen, nämlich geo-politisch zu denken und nicht nur rumzumoralisieren.

Standard: Bei den Deutschen sehen Sie die Ressentiments der Alten oder auch der Jungen. Wie ist denn das mit den Franzosen, den Engländern, den Spaniern – nicht deren Regierungen -, unter denen es auch sehr viele US-Kritiker gibt, und denen kann man ja nicht unbedingt Ressentiments wegen Nürnberg anhängen.
Sznaider: Das kann man bestimmt nicht. Die Franzosen haben anderen Probleme. Komischerweise wolle niemand über die wirtschaftlichen Interessen der Franzosen im alten Irak reden. Anscheinend haben nur die Amerikaner Interessen, weil Europäer nur aus Idealen handeln.

Standard: Nochmals, reden wir von den Menschen diesseits der Regierungen, sozusagen von der Volksmeinung.
Sznaider: Die Kritik gibt’s überall. Das ist auch okay. Viele Menschen in Europa glauben halt, dass sich Konflikte mit Kommissionen und Dialog lösen lassen. Man macht eine Tagung, bringt die Konfliktpartner zusammen und voilà, das Problem löst sich in einem gemeinsamen Lovefest. Die entgrenzte und globale Welt braucht nun mal eine Polizei, die für Ordnung sorgt. Und Amerika ist bereit, aus seinen nationalstaatlichen Interessen heraus, diese Rolle zu übernehmen. Wollen Sie vielleicht die globale Sicherheit der österreichischen Armee anvertrauen? Ich möchte wirklich niemandem seinen Pazifismus vorwerfen, auch nicht den Deutschen. Sie können sich ja ihren Pazifismus auch nur erlauben, weil die Amerikaner ihre Sicherheit garantieren. Man kann da jedes Land einzeln behandeln. Mich berührt halt am meisten die deutsche Haltung.

Standard: Wie sehen Sie die Entwicklung in Osteuropa?
Sznaider: Nehmen Sie die Polen. Die haben besondere Sympathien für Amerika, und das hat gute Gründe: Als Solidarnosc angefangen hat, hat die westdeutsche Linke praktisch nicht reagiert, die Sozialdemokratie hat sie praktisch ausgeliefert, und die einzigen, die wirklich zu ihr gestanden sind, waren die Amerikaner, war Ronald Reagan. Lesen Sie doch mal Adam Michnik und andere, was die dazu zu sagen haben.

Standard: Wobei man dazu sagen kann, es gibt eine große polnische Wählerschaft, auf die Reagan Rücksicht nehmen musste.
Sznaider: Aber es ging auch um etwas Ideologisches: den Ostblock zu brechen. Das ist ganz klar. Ich glaube, viele Polen haben das nicht vergessen.

Standard: Und den Europäern in der Nachkriegszeit beigebracht wurde. Ist die gegenwärtige Entwicklung aber nun nur ein ironic turn gegen die Europäer oder auch gegen die Amerikaner?
Sznaider: Das auf jeden Fall. Die USA hätten die Europäer heute vielleicht gern bellizistischer. Und ich will das auch nicht auf den Kagan-Punkt reduzieren, also Mars/Venus. Das ist Unsinn.

Standard: Das führt zu einem anderen, im Zusammenhang mit dem Verhältnis USA/Europa nicht uninteressanten Thema: Warum manche Intellektuelle auf der jeweiligen anderen Seite des Teiches viel populärer sind als zuhause. Das dürfte auch mit verlegerischem Kalkül und Zufall zu tun haben. Neil Postman ist so ein Beispiel.
Sznaider: Ja, weil er auch diese deutschen Sensibilitäten anspricht: Massenkultur ist schlecht für uns und das alles.

Standard: Was halten Sie von der Politik Joschka Fischers?
Sznaider: Den mochte ich 1999 unheimlich gerne, als Realpolitiker im Kosovo. In dem laufenden Konflikt hat er sich, glaube ich, von Schröder klein machen lassen. Ich weiß nicht, ob die offizielle Linie wirklich die seine ist. Aber was seine persönliche Meinung ist, ist nicht so wichtig. – So wie Deutschland für die Weltpolitik langsam unerheblich wird. Die werden langsam in die Rolle von Österreich kommen, ...

Standard: Vielleicht besser als umgekehrt.
Sznaider: ... werden die Neutralität erklären können. Wenn die Amerikaner jetzt noch anfangen, ihre Basen von Deutschland nach Polen zu verlegen, dann hat das nicht nur materielle Gründe, sondern auch ideelle.
(Ich habe hier mal mit einem Ihrer grünen Abgeordneten diskutiert, mit Peter Pilz. Und da hab ich dann gemerkt: Bush wird mit Goebbels verglichen, und es kommen alle diese Ressentiments hervor, wie man sie schon aus der 68er-Zeit kennt, so wie „USA=SS“. Das kommt jetzt auf den Demos hervor, etwa der Bush-Hitler-Vergleich.)

Standard: Wie, glauben Sie, wird es im Verhältnis Europa-Amerika weitergehen?
Sznaider: Ich glaube, dass es etwas ganz Neues geben wird; dass die UNO vollkommen neu strukturiert werden wird, denn wenn sie so bisher weiter besteht, dann wird sie in ihrer Bedeutungslosigkeit dahinschwinden; dass wir auf eine imperiale Struktur zugehen werden, in der Amerika hegemonial herrschen wird.

Standard: Und damit wird man leben können?
Sznaider: Damit wird man leben können. Nicht schlecht leben können, glaube ich.

Standard: In Westeuropa. Wie ist es, sagen wir, in Taiwan, Ruanda oder anderen Ländern?
Sznaider: Mit den imperialen Aufgaben kommen auch imperiale Verpflichtungen, und bei diesen Verpflichtungen waren die Amerikaner nie so gut, ...

Standard: Abgesehen vom Marshall-Plan.
Sznaider: ... ja, aber sie konnten sich nie entscheiden, ob sie ein Empire oder eine Republik sein wollen. Und ich sehe es als Gefahr, dass passieren kann, was nach Wilson passiert ist: dass Amerika sich wieder zurückzieht. Obwohl ich das im Moment nicht glaube.

Und da spielt natürlich der 11. September hinein. Da sind die total verschiedenen Auffassungen in Europa und in den Vereinigten Staaten. Während viele Intellektuelle ein bisschen verkniffen ihr Bedauern ausgesprochen haben, kam doch schon rüber, dass es die Amerikaner eigentlich nicht besser verdient hätten mit ihrer Arroganz. Die haben nicht den Einbruch, den Angriff gesehen, und was für einen gewaltigen Eingriff im politischen Denken das bedeutet hat. Ich gebe Ihnen ein Beispiel was ich meine. Wenn sich die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche Zeitung wie am 31. Mai zu einer konzertierten Aktion zusammentun, ist das keine Kleinigkeit. In Deutschland gibt es eigentlich nur einen, der zu solcher Mobilisierung in der Lage ist. Und ja, es ist Jürgen Habermas, der den in FAZ und Libération abgedruckten Leitaufsatz verfasst hat: "Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas".

Aber schauen sich den Artikel mal genauer an. Für Habermas ist Europa ein großer Erfolg. Amerika taucht da nur als Buhmann auf. Da gibt es nichts über die Befreiung von 1945, nichts über Amerika im 20. Jahrhundert als die große antitotalitäre Kraft, die bei allen schlimmen Fehlern doch langfristig Demokratie und Marktwirtschaft gegen Faschismus und Kommunismus durchgesetzt haben. Nichts über 1989.Und auch nichts über den Weg der USA zu einem Empire, das sich als globale Polizeimacht versteht. So kann man in Europa politisch nicht mehr weiterdenken. Wenn solche Leute dann über Europas Wiedergeburt reden, kann einem nur grauen. Was genau soll denn da wiedergeboren werden? (DER STANDARD, Printausgabe, 7./8./9.6.2003)