Der schleichende Protest gegen die Pensionsreform der Rechtsregierung ist gestern durch spektakuläre Aktionen neu lanciert worden. Die Bewegung selbst ist seit ein paar Tagen am Abflauen; im Zugsektor zählt die Eisenbahngesellschaft SNCF nur noch weniger als 20 Prozent Streikende. Diese organisieren jetzt aber so genannte "opérations coup de poing" (wörtlich: Faustschlag-Operationen), um weiter für Schlagzeilen zu sorgen. In Paris, Nizza und anderswo hinderten sie die von Nicht-Streikenden präparierten Züge mit Gleisbesetzungen am Abfahren. In Bagnolet bei Paris sperrten Mittelschullehrer die Zufahrt zum städtischen Busdepot. Im Pariser Flughafen Orly besetzten 600 Demonstrierende die Abflughalle. In Pau in den Pyrenäen verwüstete ein Kommando mit Klebern der Gewerkschaft CGT den Sitz des Arbeitgeberverbandes Medef; in La Rochelle steckten andere das Medef-Lokal in Brand.
Ihr anhaltender Streik bedroht das in einigen Tagen beginnende "Bac", die landesweite organisierte Matura. Die Regierung musste Lehrer bereits zwangsverpflichten, damit die Prüfungen abgehalten werden können.
Die Verkehrssituation besserte sich in Frankreich gestern leicht. Für kommenden Dienstag ist bei der Eisenbahn und bei Air France ein weiterer "offizieller" Streiktag angekündigt. Sozialminister François Fillon meinte, die Radikalisierung werde die Regierung auf jeden Fall "nicht zu einem Rückzieher bewegen".
Während die Ränge auf der Rechten eher geschlossen bleiben, sät die Pensionsreform bei den Sozialisten zunehmend Zwietracht. Parteichef François Hollande legte diese Woche ein Renten-Gegenprojekt vor, das Besserverdienende stärker zur Kasse bittet und das Pensionalter 60 garantiert. Diese Vorschläge sind aber sogar in der eigenen Partei umstritten. Exminister wie Michel Rocard, Bernard Kouchner, Jacques Delors oder Michel Charasse meinten, der Parti Socialiste hätte an der Regierung ein ähnliches, wenn nicht gleiches Pensionsprojekt vorgelegt.
Ausgehend von früheren Wahlversprechen der Sozialisten dürfte dies zutreffen. Hollande hat allerdings beim letzten Parteikongress im Mai einen klaren Linkskurs eingeschlagen, um die Wahlschlappen des letzten Jahres auszumerzen. Damals hatten trotzkistischen Parteien mehr als zehn Prozent der Stimmen erzielt. Die rabiaten Operationen der Streikenden sind zu einem Großteil das Werk dieser Trotzkisten, die bei der Eisenbahn und in den Lehrerzimmern stark mobilisieren. Die Sozialisten sehen sich deshalb zunehmend zwischen den Fronten eingezwängt. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.6.2003)