Zur Person

Der Ungar Zoltán Kiszelly ist Politologe und lehrt am Kodolányi John's College. Er war auch als Wahlbeobachter der OSZE in Russland und dem Kosovo tätig.

Foto: APIEK Orsi

Bild nicht mehr verfügbar.

Elég volt! - "Es reicht!", zumindest ein paar tausend Ungarn, die am 1. Jänner gegen die Regierung und die neue Verfassung auf die Straße gingen.

Foto: Reuters/Balogh

Bild nicht mehr verfügbar.

Geht es Ungarn wirtschaftlich weiterhin schlecht, werden Premier Orbán die machterhaltenden Gesetze nicht viel nützen, glaubt Kiszelly.

Foto: APA/EPA/Soos

Seit 1.1.2012 ist alles anders in Ungarn. Die neue Verfassung schränkt die Rechte des Verfassungsgerichtshofs, der restlichen Justiz sowie der Medien ein, verringert die anerkannten Religionsgemeinschaften von über 300 auf 14 und legt die Finanzmarktaufsicht und Notenbank zusammen. All diese schwerwiegenden Änderungen der regierenden Fidesz-Partei und ihres Premiers Viktor Orbán bewegen allerdings nur einen kleinen Teil der ungarischen Bevölkerung. "Solange der Wohlstand gegeben ist, ist es den Ungarn egal, wenn demokratische Rechte beschnitten werden", sagt Politologe Zoltán Kiszelly. Wie die EU dennoch diesen Entwicklungen Einhalt gebieten könnte, erklärt er im Interview mit derStandard.at.

***

derStandard.at: Die Ungarn haben im Jahr 2010 die Partei Fidesz demokratisch gewählt und mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament ausgestattet. Zyniker könnten anmerken, dass jetzt ja nur die Politik gemacht wird, die sich die Mehrheit der ungarischen Bevölkerung gewünscht hat. War bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren vorauszusehen, dass es solch Einschnitte in die Verfassung geben wird?

Kiszelly: Nein, überhaupt nicht. Das Wahlprogramm von Fidesz war eine Sammlung von Gemeinplätzen, die dann auch Eins zu Eins als Regierungsprogramm übernommen wurden. Dort ist nichts von den Maßnahmen zu lesen, aufgrund derer Ungarn heute in den Schlagzeilen ist. Fidesz sucht seit der Machtübernahme nicht den Konsens mit anderen Parteien, sondern geht einen eigenen Weg und versucht Weichenstellungen, auch mittels Verfassungsänderung, vorzunehmen.

derStandard.at: International wird mit großer Sorge nach Ungarn geblickt. Kommentatoren sprechen davon, dass in Ungarn ein autoritäres Regime implementiert wird. Können Sie diese Ängste teilen?

Kiszelly: So schlimm ist es bei weitem nicht. Es findet eine ungewöhnliche Zentralisierung und Machtkonzentration in Händen der Regierung statt, um eine vermeintliche aufholende Modernisierung über die Bühne zu bringen. Die Regierung hat nur vier Jahre Zeit, deshalb diktiert sie ein so schnelles Tempo. Dort, wo sie auf starken gesellschaftlichen Protest im Inland stößt, nimmt sie Maßnahmen zurück. Kritik aus dem Ausland wird in Ungarn traditionell nicht ernst genommen. Ich nehme aber an, dass Fidesz – wie 2002 – die Macht nach einer verlorenen Wahl 2014 abgeben wird.

derStandard.at: Schwindet das Vertrauen der Ungarn in die Partei durch die starke Änderung der Verfassung?

Kiszelly: Nein, nicht aufgrund der neuen Verfassungsgesetze. Fidesz gräbt sich eine Grube mit der derzeitigen Wirtschaftspolitik. Die Ungarn messen die Regierungsleistung an der Wirtschaftsleistung. Wenn der Forint weiterhin so schwach bleibt, leidet auch die Wählerschaft von Fidesz sehr stark und wird sich abwenden. 1,5 Millionen Ungarn haben Fremdwährungskredite. Demokratie als Gemeingut ist in Ungarn nicht so wichtig, im Unterschied zu Westeuropa. In Ungarn ist persönliche Freiheit wichtig. Solange der Wohlstand gegeben ist, ist es den meisten Ungarn egal, wenn demokratische Rechte beschnitten werden. Das Gefühl, dass wir Ungarn uns von Europa entfernen, ist derzeit viel entscheidender für die Stimmung im Land, als Einzelentscheidungen der Regierung.

derStandard.at: Ungarn ist gerade jetzt auf die EU angewiesen. Ab 11. Jänner soll mit dem IWF und der EU-Kommission über ein Hilfspaket für Ungarn verhandelt werden. Könnte die EU die Regierung unter Druck setzen, sodass Verfassungsänderungen doch zurückgenommen werden müssen, wenn sie Gelder von der EU erhalten wollen? Sind Sanktionen denkbar?

Kiszelly: Ich denke nicht. Die EU hat beschränkte Handlungsmöglichkeiten. Es wird sehr schwierig sein, gegen die Verfassung vorzugehen. Die Grundrechtecharta der EU nennt zwar die Vorgaben, aber einen Satz darunter steht auch, dass die konkrete Verwirklichung in Gesetzen immer den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Die EU kann nur dort handeln, wo gemeinsames Recht gilt. Natürlich gibt es die Möglichkeit, dass die Europäer Ungarns Hand los lassen, wenn sie wirtschaftspolitisch nicht gegensteuern. Das hat auch in Griechenland und Italien schon zum Erfolg geführt. Politischer Druck wird die Situation in Ungarn nicht ändern, nur wirtschaftlicher Druck.

derStandard.at: Wie steht die Fidesz-Partei zur EU? Ist ein EU-Austritt denkmöglich?

Kiszelly: Ein Austritt kommt überhaupt nicht in Frage, das trägt die Mehrheit der Bevölkerung nicht mit. Wir Ungarn verstehen uns als Teil Europas und als Teil des Westens – allerdings fühlen wir uns als unverstandener Teil des Westens. Fidesz sieht die EU als ein Modernisierungsinstrument. Die EU soll helfen, den Abstand zu den anderen Staaten bezüglich Lebensstandards zu verringern.

Die Regierung ist bereit, mit der EU auch Konflikte auszutragen, das ist etwas Neues. Insbesondere Österreich, Italien, Frankreich und die Schweiz beobachten mit Sorge, was in Ungarn passiert. Denn wenn die Ungarn ihre Fremdwährungskredite nicht zurückzahlen können, dann sind die Sparer in Österreich und den anderen Ländern gelackmeiert. Dann müssen deren Regierungen für die weggefallenen Kredite einspringen. Ungarn könnte das System kippen, wenn die EU und die Nettozahler kein Geld mehr haben.

derStandard.at: Zehntausende gingen am Montag in Ungarn gegen Orban und die Verfassungsänderungen auf die Straße. Von wem gingen diese Proteste aus? Können wir damit rechnen, dass das noch länger anhalten wird?

Kiszelly: Es wird noch viele Demonstrationen geben. Die letzten 20 Jahre waren in Ungarn keine Erfolgsgeschichte, deswegen sind 60 Prozent der Wähler unentschlossen und von allen Parlamentsparteien enttäuscht. Zivilbewegungen sind sehr populär, weil sie mit den Parlamentsparteien sehr wenig zu tun hatten.

Ich denke, ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung interessieren sich für Demokratiefragen, das darf man natürlich nicht unterschätzen. Aber deshalb wird man die Proteste nur in der Budapester Innenstadt sehen. Diese zehntausenden Menschen, die protestieren, werden nie zu einer Million werden, solange die Oppositionsparteien keine Wirtschaftsaussagen machen. Und sie werden sich hüten das zu tun, weil dann auch sie unpopulär werden könnten.

derStandard.at: Hat Orban noch die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung?

Kiszelly: Orban hat es bei den Wahlen geschafft, die bürgerlichen Wähler hinter sich zu scharen. Vor zwei Jahren hatte er noch 2,8 Millionen Wähler- derzeit sind noch ungefähr 1,4 Millionen davon übrig. Wenn er so weiter macht wird auf 10 bis 20 Prozent der Stimmen hinunterrutschen und auch viele seiner Stammwähler vergraulen. Orban gräbt sich derzeit sein eigenes Grab.

derStandard.at: Wie kann die Partei Fidesz diesem Szenario noch entgehen?

Kiszelly: Die Gefahr, dass die Sozialisten wieder an die Macht kommen, wird viele Bürgerliche vielleicht doch Fidesz wählen lassen. Das sind immerhin zwei Millionen potentielle Wähler. Dann hätte er noch die Chance.

Das zweite Szenario, das bei der nächsten Wahl möglich wäre, ist, dass Fidesz zwar verliert, aber die rechtsradikale Partei Jobbik viele der Proteststimmen erntet. Dann könnte Fidesz eine Minderheitsregierung führen, die von Jobbik gestützt wird – das wäre eine ähnliche Konstellation wie Schwarz-Blau in Österreich 1999. Wenn der Protest zu den links-liberalen Parteien geht und die sich zusammenschließen, dann kann Fidesz verlieren. Sofern es aber eine gespaltene Opposition gibt, hat Orban noch Chancen.

derStandard.at: Der Budapester Bürgermeister (Fidesz-Partei) wollte den rechtsextremen Schriftsteller Csurka zum Theaterintendanten machen. Wo lässt sich Fidesz im politischen Spektrum einordnen, wenn es offensichtlich auch keine Berührungsängste mit der rechtsextremen Partei Jobbik gibt?

Kiszelly: Der Oberbürgermeister von Budapest hat eine Geste Richtung Jobbik gemacht, um seine Hausmacht zu stützen. Er hat auch Gesten gegenüber den Grünen gemacht, denen er die Artkinos subventioniert hat. Das war aber nicht von Orban abgesegnet. Fidesz hat kein Interesse daran, dass Jobbik stärker wird. Jobbik wurde eine der stärksten Waffen genommen, als die Garde verboten wurde. Wenn aber nach der Wahl 2014 die Regierungsmacht nicht anders zu halten ist, könnte Fidesz – wie Fico 2006 in der Slowakei – den Nationalisten Konzessionen machen. (derStandard.at, 5.1.2012)