Sozialarbeiterin Sandra Aumüller beim Spritzentausch im Ganslwirt. Das Projekt, bei dem gebrauchte Spritzen gegen neue eingetauscht werden, hat eine Rücklaufquote von fast 100 Prozent.

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Wien - Die gut ein Dutzend Tische sind fast alle belegt: vom Ende des Raums, wo der Wuzzeltisch steht, bis hin zum Tresen, an dem gerade frischer Kaffee auf Kunden wartet. Ein typisches Wiener Beisl halt - zumindest war das das Lokal in der Esterházygasse einmal. Mittlerweile sind die "Kellner" des Ganslwirts in Wien-Mariahilf aber Sozialarbeiter und die Gäste schwerstabhängige Drogenkonsumenten. Vor 21 Jahren hatte der damalige Bürgermeister Helmut Zilk den Ganslwirt durchgesetzt - trotz massiver Proteste aus der Bevölkerung und des damaligen Bezirksvorstehers Kurt Pint. Alles Schnee von gestern: Der Ganslwirt ist längst eine etablierte Suchthilfe-Institution.

Zielgruppe sind Kranke, die in einer normalen Arztordination nicht mehr ohne weiteres betreut werden können: süchtig, meist nach einer Mischung aus Heroin und Schlafmittel, oft obdachlos, hoch verschuldet. Der harte Kern der Wiener Drogenszene besteht aus knapp 600 Leuten.

Heute bereitet Sozialarbeiterin Sandra Aumüller das Mittagessen im Tageszentrum des Ganslwirts vor: Es gibt Spaghetti bolognese. Schnell hat sich vor der Essensausgabe eine Menschentraube angesammelt. Zwei streiten um die Reihenfolge - das bleibt aber auch schon die einzige lautere Auseinandersetzung an diesem Vormittag. Erstaunlich, suchen doch täglich rund 150 Klienten den Ganslwirt auf. Viele von ihnen stehen unter enormem psychischem Druck.

Als Aumüller vor zwei Jahren mit der Arbeit anfing, war sie manchmal schon schockiert - schließlich gehören viele ihrer Klienten zu der Sorte Mensch, vor der die Mutter sie als Kind immer gewarnt hat. Nach und nach merkte sie jedoch: "Das sind Leute wie du und ich, die meisten sehr sympathisch." Der schwerste Teil ihrer Arbeit sei es, die Probleme der Klienten nach Dienstschluss einfach abzuschütteln.

Diese suchen den Ganslwirt auf, um alte Spritzen gegen neue zu tauschen, sich mit Essen zu verpflegen, zu duschen oder ärztlich untersuchen zu lassen. Beim Kaffee im Aufenthaltsraum sucht Aumüller dann behutsam das Gespräch. "Oft plaudern wir auch nur über Persönliches", und so entsteht schließlich Vertrauen. Die Hilfe der 15 Sozialarbeiter im Ganslwirt reicht von Telefonaten bei Inkassobüros über Bastelworkshops bis hin zur Vermittlung eines festen Arbeitsverhältnisses.

Substitutionstherapie

Fast jeder Langzeitklient beginnt eine Substitutionstherapie, die den Austausch von Heroin durch Ersatzopiate vorsieht. Unter ärztlicher Betreuung können Suchtkranke "unauffällig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen", sagt Hans Haltmayer, ärztlicher Leiter der Drogenambulanz. Die Substitute werden oral verabreicht, doch manchen Patienten fällt es schwer, auf den intravenösen Konsum zu verzichten und spritzen weiter illegale Drogen.

"Sucht sei keine Willensschwäche, sondern eine Erkrankung, die oft chronisch verläuft und daher für die Betroffenen eine lebenslange Einnahme von Medikamenten erfordert", erklärt Haltmayer. Nicht Abstinenz ist das Ziel, sondern Schadensbegrenzung.

Neulich erst hat Aumüller Besuch von einer ehemaligen Klientin bekommen. Noch vor zwei Jahren hatte die 30-jährig Frau als schwieriger Fall gegolten: risikoreicher Drogenkonsum, schlimme körperliche Verfassung und Opfer von Gewaltmissbrauch. Als sie vor ein paar Wochen mit einem Weihnachtsgeschenk unterm Arm wiederkam, erkannte die Sozialarbeiterin sie kaum wieder: "Sie hat ausgeschaut wie das blühende Leben und erzählt, dass sie eine Gemeindebauwohnung bekommt." Doch auch mit Schicksalsschlägen werden die Sozialarbeiter konfrontiert. Erst vor wenigen Tagen starb ein Langzeitklient. Im vergangenen Jahr starben fünf Klienten innerhalb von vier Monaten.

Beschwerden von Anrainern gibt es im Ganslwirt kaum. In zwei Jahren erreichte Aumüller lediglich ein Anruf wegen Ruhestörung. Im Sommer wird der Ganslwirt an den Gumpendorfer Gürtel umsiedeln - und wieder gibt es Widerstand aus der Bevölkerung. Doch die letzten zwei Jahrzehnte zeigen, dass Befürchtungen unbegründet sind. (Fabian Kretschmer/DER STANDARD-Printausgabe, 9.1.2012)