Die materiellen Hinterlassenschaften müssen nicht immer ganz vollständig sein, um Rückschlüsse auf die Geschichte der Menschen ziehen zu können: Sabine Ladstätter im Österreichischen Archäologischen Institut in Wien.

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STANDARD: "Wissenschafter oder Wissenschafterin des Jahres" wird man, wenn man gern und verständlich über sein Fach redet und versucht, es populär zu machen. Wie wichtig ist die Medienarbeit für Grundlagenforschung im Allgemeinen und die Geisteswissenschaften im Besonderen?

Ladstätter: Ich halte es für einen essenziellen Bestandteil unserer Disziplinen. Natürlich hat die Archäologie hier Vorteile, denn wir kommunizieren Bilder, was gerade in einer stark visuell geprägten Welt von immensem Vorteil ist. Man sollte allerdings nie vergessen, dass nicht das Bild, sondern die Interpretation desselben die Erkenntnis darstellt. Aber gerade darin liegt die Herausforderung für den Wissenschafter: Wie erkläre ich einen komplexen Sachverhalt verständlich, ohne unseriös zu werden, und habe ich den Mut zur Simplifizierung? Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten.

STANDARD: Wurden vielleicht in früheren Jahren Fehler gemacht, als man gar nicht über diese Fragen nachdachte, sondern die Öffentlichkeit scheute?

Ladstätter: Ich glaube nicht, dass große Fehler gemacht wurden. Die Medienlandschaft selbst hat sich ja in den vergangenen Jahren rasant geändert. Aber auch der gesellschaftliche und der politische Legitimationsdruck für Wissenschafter ist deutlich höher geworden. Schließlich ist der Anstieg von privatem Sponsoring ein weiterer Grund, mehr in die Öffentlichkeit zu gehen.

STANDARD: Treffen Sie bei Ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch auf Unverständnis? Fragt man Sie manchmal, wozu das alles gut sein soll?

Ladstätter: Wenn man seit der Volksschule, seit ich mir diesen Beruf in den Kopf gesetzt habe, gefragt wird, "wozu das gut sein soll", dann hat man gelernt, darauf Antworten zu geben. Allerdings werde ich immer seltener danach gefragt. Vielleicht mache ich ja wirklich ganz gute Medienarbeit ... Im Ernst: Archäologie beschäftigt sich mit der Erforschung der Kulturgeschichte des Menschen auf Basis der materiellen Hinterlassenschaft. Unsere Forschungen konzentrieren sich auf einen maßgeblichen Bestandteil des Menschseins, nämlich seiner Kultur. Wenn ich jährlich in Ephesos zwei Millionen Menschen an mir vorüberziehen sehe, wenn die niederösterreichische Landesausstellung in Carnuntum alle Besucherrekorde bricht, dann frage ich mich schon, ob wir es mit einer Nischendisziplin zu tun haben, wie oft noch behauptet wird. Wohl eher nicht.

STANDARD: Als Grabungsleiterin in Ephesos und Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts sind Sie vor allem mit Wissenschaftsmanagement beschäftigt. Bleibt Ihnen daneben noch Zeit für wissenschaftliches Arbeiten?

Ladstätter: Wenig. Wobei die Dinge ineinanderfließen. Ich halte die Trennung von Wissenschaft und Management in meiner Position ohnehin für obsolet.

STANDARD: Welche wissenschaftlichen Fragen beschäftigen Sie derzeit besonders?

Ladstätter: Wir haben in Ephesos bei geophysikalischen Voruntersuchungen ein bislang nicht bekanntes öffentliches Zentrum in der unmittelbaren Nähe der oberen Agora, des kaiserzeitlichen Verwaltungszentrums von Ephesos gefunden. Die Frage, die uns nun beschäftigt, ist die Konzeption der Agora und die Veränderungen, denen der Stadtteil im Laufe seiner jahrhundertelangen Geschichte unterworfen war.

STANDARD: Und wo liegt die Antwort?

Ladstätter: Die Herausforderung liegt in einer kontextuellen Aufarbeitung des gesamten Fundbestands, kombiniert mit neuen Feldforschungen. Dazu gehören geophysikalische Voruntersuchungen ebenso wie Grabungen. Wir interessieren uns für das Repräsentationsverhalten der Stadt Ephesos und ihrer Honoratioren, aber auch die Bedeutung der Agora im Rahmen der Prozessionen für die ephesische Artemis oder für den römischen Herrscherkult. Was geschah beim Transformationsprozess dieses Stadtviertels in der Spätantike, als sich einerseits die urbanen Zentren in Ephesos verlagerten und andererseits die paganen Kulte vom aufstrebenden Christentum zurückgedrängt und verboten wurden? Wir gingen bisher davon aus, dass das ehemalige Verwaltungszentrum in Ephesos schließlich als Handwerksviertel genutzt wurde.

STANDARD: In Ephesos bleibt es aber nicht bei der Grundlagenforschung. Da kommen Denkmalschutz und Tourismus dazu. Wie kann man diesen Spagat schaffen, ohne der Wissenschaft zu schaden?

Ladstätter: Ausgrabung bedeutet immer auch die unwiderrufliche Zerstörung eines historisch gewachsenen Zustandes. Daher ist es unbedingt notwendig, den Prozess des Ausgrabens möglichst genau zu dokumentieren, aber auch das ausgegrabene Objekt zu konservieren und vor dem weiteren Verfall zu bewahren. Der Tourismus andererseits fordert eine gefällige Präsentation des historischen Bestandes bis hin zur Rekonstruktion und zur "Erlebbarkeit", was auch immer man darunter verstehen mag. In diesem Spannungsfeld zwischen Denkmalschutz und Öffentlichkeitswirksamkeit bewegt sich die Grabungsarchäologie.

STANDARD: Hat die Türkei jemals versucht, die Forschungsarbeiten in Ephesos zu instrumentalisieren? Nimmt die Politik insgesamt Einfluss auf die Archäologie?

Ladstätter: In der Türkei gibt es Wünsche, die man diskutiert: Zum Beispiel bat man uns, durch Notgrabungen die Nekropole in Ephesos für die Forschung zu retten. Die Türkei nimmt aber keinen Einfluss auf die Forschungsprogramme selbst. Die Politik hat die Archäologie immer wieder für ihre Zwecke benutzt und tut es immer noch. Besonders auffällig ist der Missbrauch der Archäologie in totalitären Regimen, man denke ans Dritte Reich, als die Führergrabung auf der Karnburg in Kärnten zur Legitimation des Deutschtums diente. Aber auch in Demokratien bedient man sich der Archäologie als identitätsstiftendes Element. Wenn wir uns die Landesausstellung in Niederösterreich näher ansehen, so wurde das Bild der Weltmetropole Carnuntum und einer völkerverbindenden, wirtschaftstreibenden, historischen Region mit starken Beziehungen in den Osten gezeichnet. Abgesehen von der geschichtlichen Dimension sagt das viel über das heutige Selbstverständnis von Niederösterreich aus.

STANDARD: Die Geisteswissenschaften, also auch die Archäologie, stehen unter hohem Rechtfertigungsdruck. In der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Beispiel herrscht Angst, dass aufgrund von Budgetknappheit gerade diese Disziplinen gestrichen werden. Welche Strategie haben Sie sich zurechtgelegt, um über die Runden zu kommen?

Ladstätter: Unser Budget bleibt genauso wie jenes der Akademie gleich, was real ein Verlust ist, weil die Kosten steigen. Wir versuchen derzeit erfolgreich über Drittmittel durch den Wissenschaftsfonds FWF und durch das European Research Council ERC und durch private Stiftungen zu Geld zu kommen. Generell verspüren wir eine große Verunsicherung in den Geisteswissenschaften, weil man mit Forschung immer einen materiellen Nutzen verbindet. Außerdem gibt es unter den wissenschaftlichen Einrichtungen die Tendenz, sich beinahe krampfhaft voneinander abzugrenzen, um nicht den Eindruck von Doppelgleisigkeiten zu erwecken. Dem fallen leider auch sinnvolle Synergien zum Opfer. Das Resultat sind Kleinsteinheiten, die sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren, die aber nicht die notwendige Größe haben, um international mithalten zu können. Letztlich führt dies zu einer Provinzialisierung der Forschung. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.01.2012)

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Wissen: Österreich in Ephesos

Das 1898 gegründete Österreichische Archäologische Institut (ÖAI) betreibt Forschungsprojekte in mehreren Ländern, etwa in der Türkei, in Griechenland und in Ägypten. Die traditionsreichste Grabungsstätte liegt in der Westtürkei: Ephesos, wo seit 1895 Österreicher forschen, ist nicht nur archäologischer Forschungsplatz, sondern auch Ziel vieler Touristen – und auch ein Ort, wo Denkmalschutz oberste Priorität hat. Zuletzt traten Schäden an Fassadenrekonstruktionen auf, die vor mehreren Jahrzehnten mit nicht nachhaltigen Methoden errichtet wurden. Für diese Arbeiten gibt es vor allem Geld von Stiftungen aus der Türkei und aus den USA und von der Gesellschaft der Freunde von Ephesos. Das ÖAI ist, wie es im Amtsdeutsch heißt, "eine nachgereihte Dienststelle" des Wissenschaftsministeriums. (red)