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Ein Foto aus Camp X-Ray, freigegeben vom Pentagon am 11. Jänner 2002. Noch heute, zehn Jahre später, sind 171 Männer ohne ausreichenden Rechtsbeistand auf der karibischen Marinebasis festgesetzt. 89 davon sind als unschuldig eingestuft, können aber nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden.

Foto: AP/McCoy

Zehn Jahre nachdem es George W. Bush einrichten ließ, sitzen immer noch Unschuldige dort ein.

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Morris D. Davis weiß, dass es kein Kinderspiel ist, das Lager Guantánamo aufzulösen. Man muss ein Ersatzgefängnis finden, eines auf dem US-Festland, besorgte Lokalpolitiker stellen sich quer, die Konservativen im Kongress sowieso. "Der Slogan ‚Schließt Guantánamo‘ klingt ziemlich einfach. Es dann auch wirklich zu tun ist ein komplizierter Prozess" , sagt der Jurist. Nur hat er inzwischen den Eindruck gewonnen, dass Barack Obama überhaupt nicht mehr kämpft um die Erfüllung seines Wahlversprechens. "Ich glaube, der Präsident hat einfach nicht den Mut, zu tun, was richtig ist."

Davis weiß, wovon er spricht. Zwei Jahre lang war er Chefankläger der Militärtribunale, die in dem Stützpunkt auf Kuba über Schuld oder Unschuld der Gefangenen befinden sollten. Als er Order bekam, Aussagen auch dann zu verwenden, wenn sie auf Folter beruhten, nahm er seinen Hut. Heute gehört der Ex-Colonel zu den profiliertesten Kritikern des Camps, in dem die Regeln des Rechtsstaats außer Kraft gesetzt sind. Enttäuscht stellt er Obama auf eine Stufe mit George W. Bush, der "Gitmo" ins Leben rief.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Kaum im Amt, kündigte der Hoffnungsträger an, das Lager binnen zwölf Monaten dichtzumachen. Keine Militärkommissionen mehr, keine unbeschränkte Haft für Terrorverdächtige, dafür ordentliche Prozesse. Guantánamo war zur Chiffre für alles geworden, was falsch lief in Bushs Krieg gegen den Terror. Es behinderte die Aussöhnung mit der islamischen Welt, die der Reformer auf seiner weltpolitischen Agenda ganz oben ansiedelte. Wegen seiner zündenden Wahlkampfreden stand Obama in der Pflicht. Menschen jahrelang ohne Gerichtsverfahren einzusperren, das passe nicht zu Amerika, das verrate die Ideale der Republik, hatte er immer wieder betont.

Die Rhetorik ist vergessen, die Zukunft des Camps kaum noch ein Thema im Washingtoner Diskurs. Zwar erinnern Initiativen wie die Bürgerrechtsliga ACLU stets aufs Neue an den "Schandfleck" in der Karibik, doch im Kongress sind die Debatten so gut wie eingeschlafen. Im Wahljahr 2012 dreht sich alles um die Wirtschaft.

Gnädig überwuchertes Camp

Camp X-Ray, wo im Jänner 2002 die ersten Häftlinge eintrafen, in orangefarbenen Einteilern, Fesseln an den Füßen, die Augen von dunklen Motorradbrillen bedeckt, ist heute nur noch Geisterkulisse. Gnädig überwuchert tropisches Grün die berüchtigten Gitterkäfige, während die später errichteten Hochsicherheitstrakte originalgetreue Kopien einer Haftanstalt in Indiana sind. Für die Ewigkeit gebaute Betonburgen anstelle des anfänglichen Provisoriums.

Hin und wieder greifen US-Zeitungen das Thema auf. Etwa die New York Times, die neulich einen Meinungsbeitrag des ehemaligen Guantánamo-Insassen Lakhdar Boumediene druckte. Der Algerier war 1997 für den Roten Halbmond nach Sarajevo gegangen, um nach dem Bürgerkrieg traumatisierten Kindern zu helfen. Im Oktober 2001, fünf Wochen nach den Terroranschlägen des 11. September, wurde er verhaftet. Boumediene, so der Verdacht, habe die US-Botschaft in Bosnien in die Luft sprengen wollen. Ein lokaler Richter sprach ihn frei, doch US-Agenten setzten den Algerier kurzerhand in eine Militärmaschine mit Kurs auf Kuba.

"Ich wurde tagelang wachgehalten. Gezwungen, stundenlang in schmerzhafter Körperhaltung zu verharren" , schildert Boumediene seine Qualen. "Ich will das alles nur noch vergessen." 2008 entschied das Supreme Court in Washington den Fall "Boumediene gegen Bush" zugunsten des Gefangenen: Auch wer in Guantánamo einsitze, habe das Recht auf ein faires Verfahren. Bald darauf ließ die US-Regierung alle Anklagepunkte fallen. 2009 erlangte Boumediene die Freiheit wieder. Er wolle wieder karitative Arbeit leisten, schreibt er. Aber sobald er sich bewerbe, wirkten die sieben Jahre Guantánamo wie ein Stigma.

Derzeit sind es 171 Häftlinge, die noch dort einsitzen. 89 von ihnen wurden offiziell als unschuldig eingestuft, doch in ihre Heimat können sie vorerst nicht zurückkehren. In Ländern wie Syrien haben abgeschobene Islamisten mit Folter zu rechnen. Jemeniten werden nicht mehr nach Hause geschickt, weil man fürchtet, Al-Kaida Vorschub zu leisten. Gegen andere, allen voran Khalid Scheich Mohammed, dem mutmaßlichen Chefplaner der 9/11-Anschläge, sollte in den USA verhandelt werden. Aber keine amerikanische Stadt will ein solches Verfahren bei sich stattfinden lassen. (Frank Herrmann aus Washington/DER STANDARD, Printausgabe, 11.1.2012)