So witzig wie rätselhaft – Christoph Marthalers szenische Gedanken zu Franz Schuberts Liederzyklus "Die schöne Müllerin".

Foto: Festwochen
Christoph Marthalers Schubert-Kohorte ist nun auch in Wien eingerückt und hat mit ihrem ebenso unlösbaren wie einleuchtenden szenischen Rätsel "Die schöne Müllerin" bei den Festwochen einen weiteren Sieg errungen.


Wien - Marthaler was here. Das allein sagt viel, wenn nicht gar alles. Und, wie im Fall dieser Schönen Müllerin, doch auch gar nichts. Auch wenn sich zwei Damen zwischendurch einen Jägerhut aufsetzen und flach am Boden liegend ein Gewehr zwischen die Schenkel pflanzen, ist dieser Abend alles eher als eine Bühnenversion des Liederzyklus von Schubert.

Trotz mit professionellem Pfiff arrangierter Auffaltungen der Musik zu Ensembles und aufdringlicher Perpetuierungen der Begleitung ist er auch keine parodierende Schubert-Maschine und bei aller zum Teil zwerchfellerschütternder Situationsakrobatik noch lange keine Komödie.

Es ist jedoch auch noch lange keine Tragödie, weil der Abend das alles nicht ist - oder am Ende auch wirklich gar nichts ist. Er ist nämlich etwas völlig anderes als das üblicherweise als inszenatorisch fortschrittsmutig Geläufige: Er hat sich vielmehr aus dem Gedünst des sich um Belang mühenden Zeitgeistigen zum autonomen Gesamtkunstwerk emanzipiert.

Man könnte diesen Abend eventuell als die von Ausstatterin Anna Viebrock mit viel Liebe zur Geometrie gestaltete singuläre szenische Quadratur eines Liederkreises bezeichnen, als irisierendes Bühnenrätsel, dessen Lösung darin liegt, sich allen Versuchen einer solchen strikt zu verweigern. Was Christoph Marthaler demonstriert, ist szenische Metaphysik, nach deren geheimen Gesetzen zeitlupenhafte Unwirklichkeiten zu wohltuend verwirrenden Botschaften werden.

Sie werden unter anderem mit ebenso diskretem Nachdruck von Christoph Homberger überbracht - häufig aus einem Hotelbett. Der Grund, warum er in selbigem lagert, ist nicht in einer (übrigens kaum merklichen) Indisposition zu suchen, für die Festwochen-Schauspielchefin Marie Zimmermann um Nachsicht ersuchte, sondern - nirgendwo. Eine glückliche Lokation, wo auch alle übrigen Bewegungsgründe lagern:

Etwa, warum Homberger in einem Kasten eingekeilt ist, aus dem er, während er die Ungeduld intoniert, auch von einer ganzen Kette sich mühender Subjekte nicht befreit werden kann. Oder warum Rosemary Hardy, mit hoch aufgestecktem Haar die wandelnde Parodie einer mittelmäßigen Konzertsängerin, im Hintergrund ein Pianino betätigt. Und auch, wer wissen will, warum diesem Kasten plötzlich sechs splitternackte Herren entsteigen und alles, was von ihnen hängt, mit mutiger Entschlossenheit über die Bühne tragen, muss sich nur wohl und gar nicht übel nach nirgendwo wenden.

Dort mag man auch erfahren, warum Stefan Kurz vor einem balzendem Auerhahn einen Text von Robert Walser raunt oder Hanns Eislers Vertonung von Brechts Über den Selbstmord zwischen Schubert-Liedern figuriert. Da liegen die Gründe für die musikalische Integrität dieses Gesamtkunstwerks schon näher. Sie wird nicht nur von Markus Hinterhäuser an Klavier und Celesta garantiert, sondern auch von den anderen zwei zum Teil von den szenischen Verwirrungen keinesfalls verschonten Begleitern Ueli Jäggi und Christoph Keller.

Bei aller Freude über Marthalers Mut zu solcher Verrätselung beschleicht auch den gefügigsten Zeugen doch die Versuchung, dem Gift des Intellekts und der Logik nachzugeben und die Frage zu stellen, was das alles denn soll. Zwei siamesisch aneinander gewachsene, schmerzhaft über Stiegen kollernde Herren, verschlungene Menschengruppen, die apathisch vor sich hin vegetieren oder kriechend Klaviere befördern, gebeugte Einzelgänger, die gleich wandelnden Stützen die Decke hochhalten - alles Bilder, die Unterdrückung und Entindividualisierung signalisieren.

Buckelndes Biedermeier. Woher Franz Schuberts Lieder stammen und wohin alle Globalisierten, Normierten, Reformierten, Rationalisierten und Uniformierten zurzeit flott unterwegs sind. So wird Marthalers Rätsel auch schon zu seiner eigenen Lösung. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.6.2003)