Salzburg - Die heutige, in den letzten Jahrzehnten gleichsam gewachsene Kunst der führenden Countertenöre soll in klanglicher und gesangtechnischer Hinsicht den umjubelten Vorführungen der Kastraten des 17. und 18. Jahrhunderts gleichkommen.

Und wenn uns Pfingstkonzert- und Barockhörern eine Autorität wie Christian Wildhagen in einem der blendend gestalteten Programmhefte auch noch verrät, ein seinerzeit "mit schier endlosen Koloraturen in den Wahnsinn" getriebenes Publikum hätte sich in allgemeiner Hysterie zu dem Ausruf "Eviva il caltello!" hinreißen lassen, dann ist das zu übersetzen.

Erst dann mag man sich heute unter dem Eindruck von virtuosen Vivaldi- oder Händel-Arien eine Vorstellung machen, mit welchen Ahnherren es die unkastrierten, ausschließlich mittels eigener Technik operierenden Hauptdarsteller dieses Spezialfachs virtuell zu tun haben. Mit dem Ausruf "Eviva il caltello" wurde - das sollte man unbedingt wissen - jenes Messerchen gefeiert, mit dessen schauerlicher Hilfe die Kastration, also die brutale Hodenausschneidung, bewerkstelligt wurde.

Die Tabellenführer

Den Salzburger Veranstaltern, den Festspielen in ihrer barocken Frühsommerfunktion, ist es zu danken, mit dem stimmlich unfassbar wendigen, gestalterisch eher intuitiv wirkenden Amerikaner David Daniels und mit dem eine Spur "wissenschaftlicher" auftretenden Andreas Scholl aus Deutschland sozusagen zwei Tabellenführer der imaginären Counter-Oberliga eingeladen und mit vor Leben und Brillanz geradezu berstenden Arien zum friedlichen Wettstreit herausgefordert zu haben.

Beiden Sängern war es gegeben, die fundamentale Künstlichkeit ihres vokalen Agierens mittels Temperament, mittels guter Laune, Humor und augenzwinkernden Tränen als Altertümelei mit höchstem Gegenwärtigkeitswert auszugeben. Ihnen zur Seite stehen prägende, von kollektiver Könnerschaft geradezu getriebene Ensembles: im Andreas-Scholl-Programm die Akademie für Alte Musik Berlin, in der Daniels-Vortragsfolge Les Violins du Roy unter der Leitung von Bernard Labadie.

Die diesjährigen Salzburger Barocktage hatten mit einer prickelnden, ganz auf Italianità einjustierten Konzertwiedergabe von Händels Aci, Galatea e Polifemo begonnen - treibende Musikkräfte waren dabei die superagilen Il-Giardino-Armonico-Instrumentalisten. Zwei Tage später waren es Martin Haselböck mit Chor und Orchester der Wiener Akademie mit starkem Akzent auf literarischer Unterweisung. Sie brachten Stücke von Heinrich Ignaz Franz Biber und Carl Philipp Emanuel Bach - aus den jüngst gehobenen Schätzen der Bibliothek von Kiew - zu Gehör und konnten damit zweifellos punkten.

Wie geht es weiter: Haselböck und seine "Akademie" werden es auch sein, die 2004 am 28. Mai das kleine Antiquitäten-Festspiel mit Händels Il Trionfo del Tempo eröffnen werden. Manches von Biber, französische Werke (Christophe Rousset mit den jungen Talents Lyriques) und Bachs h-Moll-Messe (Rilling mit der Gächinger Kantorei und der Bachakademie Stuttgart) werden im Vorprogramm genannt. Und auch die Solisti Veneti mit Claudio Scimone hat man für 2004 aus der Versenkung geholt . . . (DER STANDARD, Printausgabe, 10.6.2003)