Wien - Erpresste Versöhnung gibt es eben nicht. Dies ist das Fazit des vom Medizinnobelpreisträger Eric Kandel initiierten Symposions zu den Folgen des Nationalsozialismus für die wissenschaftliche Bildung: Wer - wie die Nobelpreisträger Walter Kohn und Eric Kandel - als Kind verjagt wurde, der lässt sich nachher nicht mehr als "Österreicher" vereinnahmen.

Dass Brüche hier nicht geglättet wurden, gab doch Anlass zur Freude: Eric Kandel hielt den Vortrag, den er zu Wochenbeginn im Jüdischen Museum auf Englisch gehalten hatte, zum Abschluss am Freitag in Deutsch (Auszüge in derStandard.at). Grundthema des Symposions: der gewaltsame Abbruch von "Bildung" im März 1938 und Bildungswege im amerikanischen Exil. So lässt sich auch Walter Kohns sehr persönliches Erinnerungspatchwork am Freitag als zerfranster Bildungsroman lesen.

Der Chemienobelpreisträger, der bis zum Hinauswurf jüdischer Schüler 1938 das "Akademische Gymnasium" besucht und sich dort primär für Latein und gar nicht für Mathematik interessiert hatte, evozierte zwei Lehrer aus dem Chajes-Gymnasium 1939. Diese beiden - der Physiklehrer Emil Nohel und der Mathematiker Victor Sabbath - eröffneten ihm die Naturwissenschaften: "Verglichen mit den Gesetzen der Physik, war die Schreierei des Führers draußen nichts." Beide Lehrer wurden, wie auch Kohns Eltern, in Auschwitz ermordet. Das Flüchtlingskind Kohn aber ging in Toronto und Harvard den von ihnen initiierten Weg - über die Quantenmechanik hin zur "funktionalen Dichtetheorie". Solche krummen Bildungswege waren auch das Thema einer groß angelegten Studie Gerald Holtons. Verblüffend: Die "Kinder, die Österreich nicht wollte" brachten nach Amerika ein höheres Bildungsniveau mit; bei den Frauen war dies sogar fünfmal höher.

Zwar fanden die Höchstbegabten den Einstieg ins amerikanische Bildungssystem, aber kulturell bestand noch eine starke Bindung an Europa - Lieblingslektüre: Karl May und Erich Kästner. Und Brüche: Angstträume, posttraumatische Schockerfahrungen. Solche Risse machte - als Einzige auf dem Podium - Ruth Klüger aus ihrer Lehrerfahrung in Amerika mit dem europäischen Thema "Holocaust" sichtbar: "Die Studierenden, die als Wahlfach solche Kurse in Amerika belegten, waren zum Großteil, aber keineswegs ausschließlich Juden. Verwöhnte gescheite jüdische Kinder, denen es immer gut gegangen war, deren Eltern das Geld hatten, sie an renommierte Universitäten wie Princeton zu schicken - privilegierte junge Menschen, bei denen sich im Kopf die Kluft aufgetan hatte, dass man ihresgleichen vor nicht allzu langer Zeit massenweise vom Erdboden verschwinden ließ und dass ihre eigenen Großeltern unter den Opfern waren."

Dieser "internationale Albdruck jüdischer Kinder" ist es, was auch in diesen Tagen, unter den Erfolgsgeschichten späterer Nobelpreisträger, schwelte. Ruth Klügers Beitrag - im derStandard.at abgedruckt - grub ihn aus. (Richard Reichensperger/DER STANDARD, Printausgabe, 10.6.2003)