Wäschewaschen vor dem Friseursalon, drinnen ist kein Platz.

Foto: An Yan

Haarewaschen auf der Straße - ein alltäglicher Anblick.

Foto: An Yan

In China, so sagt mein in Peking vom Unterrichtsministerium gedrucktes Lehrbuch, gibt es keine Privatsphäre. So ganz stimmt das seit einigen Jahren nicht mehr, denn immer mehr Chinesen entscheiden sich gerade in den Städten für ein modernes Leben in einer Neubauwohnung, zu dem auch Anonymität und geschlossene Türen gehören. Doch ein großer Teil der Chinesen und gerade die ältere Generation leben ihr Leben bevorzugt außerhalb der Wohnung auf öffentlichen Plätzen im Grätzl oder einfach auf dem Gehsteig vor der Haustür.

Privatsphäre unmöglich?

Was die Wohnungen mit Privatsphäre zu tun haben? Sehr viel. Ein Blick in typische ältere chinesische Wohnungen lässt einen verstehen, warum. Sie sind häufig sehr eng, dunkel, kalt und mangelhaft mit Strom, Wasser und Nasszellen ausgestattet. Alte Wohnungen in alten Stadtteilen haben oft keine Toiletten oder Badezimmer; der persönlichen Hygiene muss also prinzipiell auf den allgegenwärtigen öffentlichen Toiletten nachgegangen werden. Die Stromversorgung ist zwar gegeben, aber die Kabel sind - wie auch in meiner Wohnung - so alt, dass man nie mehr als zwei Geräte anstecken kann, weil es sonst raucht. Wenn man also beispielsweise - wie die meisten Chinesen - einen Elektroroller und eine Waschmaschine hat, kann man diese generell nur auf leistungsstärkeren Stromquellen laden. Auch Warmwasser haben die meisten alten Wohnungen nicht. Das ändert sich zwar in letzter Zeit mit großangelegten Solarwasser-Kampagnen der Regierung, doch Frauen, die sich auf dem Gehsteig mit abgekochtem Wasser die Haare waschen, sind noch immer ein häufiger Anblick. Und mit mangelhafter Isolierung ist es gerade in Kunming in den Wohnungen oft kälter als draußen.

Privatsphäre unerwünscht!

Generell scheint der Mangel an - für Europäer selbstverständlichen - Grundeinrichtungen einer Wohnung niemanden zu stören. Im Gegenteil, viele empfinden den Aufenthalt im Haus als erdrückend und fühlen sich einsam. Warum sollte man zu Hause alleine etwas tun, wenn man es draußen gemeinschaftlich tun kann? Gerade ältere Menschen gehen sehr gerne auf die Straße, um ihre Freunde zu treffen, die Enkelkinder kommen mit zum Spielen, und die Söhne und Töchter setzen sich dazu, um alltägliche Aufgaben zu verrichten. In einigen Hausgängen stehen Waschmaschinen, die bei Bedarf vor die Tür gerückt werden. Darum liegen auf den Gehsteigen vor neueren Gebäuden und Geschäften Verlängerungskabel für die Kunden oder Nachbarn, um größere Elektrogeräte benutzen zu können. Während man auf die Wäsche wartet, kann man auch noch schnell mit dem Nachbarn plaudern, einen Schal fertigstricken, Zähne putzen, das Gemüse für das Abendessen waschen, sich rasieren, Windeln wechseln oder eine Runde Tee trinken. Die Wäsche wird zum Trocknen auf die Straße oder aus dem Fenster gehängt - es ist ganz selbstverständlich, dass jeder Passant jegliches Kleidungsstück inklusive Unterwäsche zu sehen bekommt. Man hat hier diesbezüglich keine Scheu.

Die Nachbarschaft gehört immer dazu

Kindererziehung und soziale Fragen werden stets in der Öffentlichkeit gelöst. Wenn ein Ehepaar sich streitet oder Nachbarn zanken, dann bekommt das die ganze Straße mit. Es kommt nicht selten vor, dass sich eine große Menschenmenge um die Konfliktparteien versammelt und sich in den Streit einmischt. Wenn die Mutter ihr Kind ausschimpft, beraten die Umstehenden, ob das jetzt wirklich nötig ist; wenn es um Probleme im Freundeskreis geht, wird wild mitgestritten und Verdächtigungen geäußert. Und wehe, ein Dieb wird auf frischer Tat ertappt - er wird eingekreist, und nicht selten setzt es verbale oder handfeste Ohrfeigen. "Menschen, die hinter geschlossenen Türen streiten, haben etwas zu verbergen und sind nicht vertrauenswürdig", sagt mein Lehrbuch dazu.