Graffiti-Sprayer auf Streifzug: Ivette Löckers Film "Nachtschichten" begleitet Leute wie ihn.

Foto: Filmladen

Wien - Als geheimnisvolle Gegenwelt verspricht die Nacht Erfahrungen, die einem der lichte Tag vorenthält. Ivette Löcker beginnt ihren Dokumentarfilm Nachtschichten, der auf der Diagonale von 2011 als beste Arbeit in dieser Sparte ausgezeichnet wurde, so auch mit einer subjektiven Einleitung in der Form einer traumähnlichen Kindheitsgeschichte: Alleine machte sie sich mit ihrer Schwester einmal ins nächtliche Dunkel auf. Reflexionen von Autoscheinwerfern am Plafond begleiten diese Erinnerung - ein Lichtspiel, das viele von ihrem Bett aus beobachtet haben.

Nachtschichten begleitet nächtliche Aktivitäten in der schneebedeckten Metropole Berlin. Von der leicht entrückten Position des Beginns behält der Film dabei etwas bei. Anders als in Nikolaus Geyrhalters beinahe zeitgleich entstandenem Film Abendland, der das auf Effizienz und Kontrolle ausgerichtete nimmermüde Europa behandelt, geht es bei Löcker primär um Menschen, die eine besondere Affinität zur Nacht auszeichnet - sei es beruflich bedingt oder aus persönlicheren Gründen. Den Protagonisten ist das Dunkel vertraut, sie kennen diesen Raum mit seinen eigenen Gesetzen sogar als "Freund, der einen umarmt".

Nur vorhandenes Licht

Der beträchtliche Reiz des Films liegt darin, Eindrücke aus deren Leben nicht einfach nur zu vermitteln, sondern sie auf den Zuschauer gleich einem Gefühl zu übertragen. Die Kamera von Frank Amann nutzt ausschließlich vorhandenes Licht - so dunkel sind die Schneisen, die der Film durch die Stadt zieht, dass das kleine Feuer eines Obdachlosen oder der Kegel einer Taschenlampe schon wie unbotmäßige Lichtquellen erscheinen. Geborgenheit vermittelt überdies der Ton, denn die Sprechenden sind bei ihren Ausführungen nicht immer zu sehen; dadurch wirkt die Rede oft seltsam nahe am Ohr des Betrachters.

Die dramaturgische Struktur des Films bleibt unaufdringlich, folgt jedoch lose dem Prinzip von Jäger und Gejagtem. Dies wiederum harmoniert hervorragend mit jenem Eindruck, dass die Nacht die Wildnis in der Großstadt hervorbringt. Löcker folgt etwa Graffiti-Künstlern, die ihrem Handwerk im Geheimen nachgehen, mitunter in gefährlichen Höhen. Das Filmteam wird hier zum Verbündeten, umgekehrt ist es auch bei den polizeilichen Hubschrauberflügen mit an Bord, bei denen die nächtlichen Landschaften mit Infrarotkamera abgetastet werden.

Traditionell gilt die Nacht als privilegierter Zeitraum der Einsamen. Nachtschichten setzt diesem Bild die Idee eines Kollektivs entgegen, das vom herumstreunenden Obdachlosen, seinen Helferinnen im Bus über eine japanische DJ-Frau bis zum manischen Spaziergänger reicht, der sich dem Zufall überlässt: All diese Nachtaktiven teilen einen Zyklus, von dem wir Schlafenden meist ausgeschlossen sind. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 12. Jänner 2012)