Glückliches Land, in dem ein Bundespräsident von vielen als untragbar empfunden wird, weil ein persönlicher Freund ihm vor Jahren einen günstigen Hausbaukredit gewährt hat! Wer als Österreicherin in den deutschen Medien die Christian-Wulff-Debatte verfolgt, kann sich eines gewissen Neidgefühls nicht erwehren. Nachbarn, denkt man bei sich, eure Sorgen möchten wir haben.

Im Lichte dessen, was sich Politiker bei uns schon alles weitgehend ungestraft geleistet haben, ist des deutschen Präsidenten Verfehlung das, was auf Deutsch ein Klacks und auf Österreichisch ein Lercherlschas genannt wird. Hierzulande geht es gleich um abgezweigte Millionen. Detto Wulffs zorniger Anruf bei einem Chefredakteur in eigener Sache. In Österreich macht man das anders. Man schanzt den Boulevardmedien, wenn man von ihnen etwas will, Riesenbeträge aus Steuergeld in Form von Inseraten zu oder wirft sich ihnen in vorauseilendem Gehorsam gleich brieflich vor die Füße.

Es ist schon gut, dass die Deutschen ihren europäischen Nachbarn zeigen, dass sie an die Integrität ihrer gewählten Vertreter hohe Ansprüche stellen. Die Debatte erinnert uns alle daran, dass es Standards gibt oder geben sollte, an die sich Volksvertreter halten sollen und Präsidenten schon gar. Freilich, zu Christian Wulffs Gunsten spricht, dass er vor einiger Zeit öffentlich erklärt hat: Der Islam gehört zu Deutschland. Das ist ein bemerkenswerter Satz. Und einer, den man von unserem skandalfreien und mit Recht angesehenem Bundespräsidenten noch nicht gehört hat, aber gern hören würde. Nicht korrupt zu sein ist schön, aber es ist nicht alles.

Welche moralischen und demokratischen Standards wo und für wen gelten ist ein weites Feld und eines, über das man als Staatsbürger hierzulande leicht den Überblick verliert. Darf der Chef des ORF sich einen SPÖ-nahen jungen Mann als Büroleiter holen? Nein, sagt die Öffentlichkeit unisono. Und es ist wahr, die Berufung von Nikolaus Pelinka ist ein eklatantes Beispiel für die parteipolitische Abhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens in Österreich. Alle, die sich darüber aufregen, haben recht. Aber ist der Fall Pelinka ein Unikum? Hat es nicht seit Jahr und Tag eindeutig parteipolitische Personalentscheidungen im ORF gegeben? Und zwar nicht auf Büroleiterebene, sondern auf der Ebene von Direktoren, Generalsekretären und Chefredakteuren? Ein Büroleiter ist schließlich nicht mehr als das, was man früher Chefsekretärin genannt hat, die sich der Chef selbstverständlich selbst aussuchen durfte.

Präsident oder Büroleiter - bei beiden Skandalen spielen wohl auch die jeweiligen Persönlichkeiten eine Rolle. Christian Wulff ist den Deutschen nicht nur zu unverlässlich in finanziellen Dingen, sondern auch zu blass, zu kleinbürgerlich, zu provinziell. Nikolaus Pelinka ist den Österreichern nicht nur zu SPÖ-abhängig, sondern auch zu jung, zu blond und zu gegelt. Beide Skandale haben ihre Berechtigung. Aber wir sollten uns eingestehen: Es geht im Grunde um die Unzufriedenheit mit dem demokratischen Stil und um die Sehnsucht nach vorbildhaften Persönlichkeiten. Wulff und Pelinka, jeder auf seine Weise, sind dafür kaum mehr als Symbole. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.1.2012)