Endlich ist eine Debatte über den europäischen Sozialstaat losgebrochen. Aber nicht in Europa, sondern im amerikanischen Wahlkampf, den Favorit Mitt Romney mit Sprüchen wie "Europa funktioniert nicht einmal in Europa" führt.

Dabei geht es dem Republikaner aber nicht um die Euro-Schuldenkrise, sondern die Zukunft seines Landes. Er beschuldigt Präsident Barack Obama, das gescheiterte europäische Modell in den USA einführen zu wollen und damit dem Sozialismus den Weg zu ebnen.

Das ist in mehrerer Hinsicht ein Unsinn. Weder ist Obama ein Sozialist, noch wäre er überhaupt in der Lage, ein Sozialsystem nach europäischem Muster zu einzuführen. Auch seine Gesundheitsreform ist weit von den öffentlichen oder staatlichen Krankenkassen entfernt, die in Europa (mit der Ausnahme der Schweiz) die Regel sind.

Aber auch die USA haben ein Sozialsystem, mit Notstandshilfe, Arbeitslosenunterstützung, einem öffentlichen Pensionssystem und einer ebenfalls staatlichen Krankenversicherung für Senioren (Medicare), Arme (Medicaid) und Veteranen. Allerdings ist vor allem das Gesundheitssystem vergleichsweise teuer, ineffizient und bietet wenig Sicherheit, weshalb Obamas Reform dringend notwendig ist.

Sein Konzept der Versicherungspflicht ist nicht zufällig von Romney einst in Massachusetts eingeführt worden – es ist ein konservatives Prinzip, das die Einflussnahme des Staates  möglichst gering hält.

Das Vorhaben vieler Demokraten, Elemente des europäischen Sozialsystems in ihrem Land zu kopieren, ist grundsätzlich vernünftig. Denn Europa hat hier viel zu bieten, was beispielshaft ist. Es ist ein Pech, dass gerade in Obamas Amtszeit die Euro-Schuldenkrise den gesamten Sozialstaat in Verruf bringt.

Das ist unberechtigt. Nicht der Sozialstaat an sich ist das Problem, sondern nur jene Auswüchse, die sich in vielen Ländern als ungerecht, wachstumshemmend und unfinanzierbar erwiesen haben.

Von denen gibt es in jedem Land einige, und in manchen Ländern mehr. Dabei erweist es sich, dass gerade die teuersten Aspekte besonders wenig soziale Treffsicherheit aufweisen. Typisch dafür ist die österreichische Hacklerpension, von der vor allem Männer im öffentlichen Dienst mit oft überdurchschnittlichen Gehältern profitieren.

Genauso ungerecht ist der ausgeprägte Kündigungsschutz in südlichen Ländern wie Spanien und Italien, die einen geschützten Sektor schafft, Millionen von Jungen aber ohne Chance auf einen geregelten Job lässt.

Da muss man noch gar nicht über Beispiele von echtem Sozialbetrug, wie sie etwa in Griechenland gang und gäbe sind, gar nicht sprechen.

So lange sich Länder den – meist völlig legalen – Missbrauch des sozialen Netzes leisten konnten, gab es wenig Grund für Änderungen, von denen mächtige Interessensgruppen schmerzhaft betroffen wären. Aber dieser Luxus ist vorbei.

Es stimmt, dass Sozialausgaben nicht allein für die Schuldenproblematik verantwortlich sind und die Schuldenberge nicht bloß durch Sozialkürzungen abgebaut werden können. 

Aber eine Überprüfung und allfällige Redimensionierung der Sozialleistungen gehören genauso dazu. Doch diese Sozialstaat-Debatte, bei der es weniger um wohlerworbene Rechte als um die tatsächliche soziale Treffsicherheit gehen sollte, findet in Europa viel zu wenig statt oder wird sogleich vom wehleidigen Gebrüll der Betroffenen rasch übertönt.

Da wird das Feld bornierten Ideologen wie den US-Republikanern überlassen - leider.