Er ist ein junger Spund, ein Kind des 20. Jahrhunderts, das es sich zum allgemeinen Unglück ja nicht hat nehmen lassen, die verrücktesten Ideen des 19. in die leidige Tat umzusetzen. So auch die während des Ersten Weltkriegs wirksam gemachte allgemeine Ausweispflicht beim Überschreiten von Staatsgrenzen.
An diesen - ganz besonders an den jeweils neuen, die der Krieg so mit sich gebracht hat - wurde gefilzt und perlustriert, warten gelassen und anderweitig schikaniert, dass es nur so eine Freude war.
Im Verkehr zwischen den Staatsbürgern war solches Grenzkarniefeln - von dem die heutigen Schengenkritikaster sich gar keine Vorstellung mehr machen wollen - gerne gesehen. Im Verkehr zwischen den Staaten selber war das freilich kontraproduktiv. Und aus diesem Grund gibt es den sogenannten Diplomatenpass, welchem am einstigen Eisernen Vorhang sogar eine tatsächlich befahrbare Diplomatenspur entsprach.
Beschlossen und international fixiert wurde ein solches Diplomatenprivileg 1961 - und ausgerechnet in Wien. Der praktische Nutzen des WÜD, des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen, war freilich allgemein einsichtig.
In Zeiten internationaler Hanebüchenheit erschien es klug, den Diplomaten gegenseitig nicht nur Reise- und Visumsfreiheit zu gewähren, sondern auch Immunität. Kein Staat kann einen ausländischen Diplomaten zur Verantwortung ziehen. Nur bei der Ehre packen: Die Höchststrafe war und ist die Unerwünschtheit als "persona non grata" . Der Diplomatenpass - der jüngere, aus Mutter Not geborene Bruder des Reisepasses - hat nicht nur deshalb auch heute einen einsichtigen Daseinsgrund.
Freilich hat der im WÜD aus der Taufe Gehobene auch einen Zwilling, den mittlerweile so genannten "Wiener Diplomatenpass" , der irgendwie als eine Art Kuckuckskind gilt. Da und dort hört man bereits:"Es gibt Diplomaten. Und es gibt ,Wiener Diplomaten‘."
Der Unterschied ist Österreichern leicht erklärt: KHG, Graf Ali usw. Für Ausländer wäre weiter auszuholen. Doch dafür fehlen hier - und dummerweise nicht nur hier - Zeit und Platz. Es kann bloß angedeutet werden:dreist. Aber das ist natürlich kein Zufall.
"Wien bleibt Wien" , das hat der alte Karl Kraus für eine Drohung gehalten. Gott und die Tante Jolesch mögen uns hüten vor denen, die darin eine Verheißung sehen. (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD; Printausgabe, 13.1.2012)