Nur wenn Krankenpflege und Sozialarbeit gut kooperieren können, klappt die Versorgung langfristig, sind sich Karin Marek (li) und Andrea Kapounek (re) einig.

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Medizin und Pflege gehören enger miteinander verschränkt, sagen die Pflege-Expertinnen Karin Marek und Andrea Kapounek. Mit Karin Pollack sprachen sie über Notaufnahmen, die Brücke zwischen Spital und Zuhause und die Vorsorge für Selbstbestimmung.

Standard: Wie lange können ältere Menschen mit gesundheitlichen Problemen eigentlich allein zu Hause leben?

Marek: Eigentlich bis an ihr Lebensende: Pflege beginnt bei Essen auf Rädern und Unterstützung im Haushalt, kann aber auf medizinische Hauskrankenpflege durch diplomierte Krankenschwestern ausgeweitet werden.

Kapounek: Es ist aber natürlich eine Frage des Geldes. Menschen mit starken Beeinträchtigungen und damit Pflegegeldbezieher der Stufe 5 und 6 bekommen für eine optimale Versorgung nicht genug Geld. Sie müssen Pflegeleistung dazukaufen, oder die Familie springt ein.

Standard: Und wer sich das nicht leisten kann?

Marek: Wir haben abgestufte Versorgungsmöglichkeiten. Der Fonds Soziales Wien fördert je nach Einkommen. Auf den Bedarf kommt es an: Es kann stundenweise Betreuung zu Hause, aber auch die Versorgung in Tageszentren sein. Wer eine 24-Stunden-Betreuung braucht, ist auf Personenbetreuung angewiesen.

Standard: Was die Krankenhausaufenthalte betrifft, sind die Jahre am Lebensende statistisch betrachtet die intensivsten.

Kapounek: Die Akutbetreuung älterer Menschen ist problematisch. Sie rufen die Rettung, landen auf Notfallambulanzen, und dort warten sie oft stundenlang. Sie sind dort überfordert, haben Angst.

Marek: Demenzerkrankungen machen das Problem nur noch gravierender. Jede Aufregung verursacht eine Verstörung. Viele laufen dann einfach davon. Notfall-ambulanzen sind auf diese Menschen einfach nicht eingestellt.

Standard: Sind ältere Menschen also keine Notfälle im eigentlichen Sinne?

Kapounek: Eigentlich schon. Die meisten älteren Menschen haben chronische Krankheiten, bei denen plötzlich akute Schübe auftreten. Wir haben uns im Göttlichen Heiland auf die Akutversorgung älterer Menschen eingerichtet, versorgen Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Parkinson.

Standard: Bringt die Rettung ältere Notfallpatienten automatisch in spezialisierte Ambulanzen?

Kapounek: Nein, nur wenn freie Betten gemeldet sind. Es gibt aber generell viel zu wenig Akutversorgung für ältere Menschen. Derzeit ist es ja so: Die Krankenhäuser sind angehalten, Patienten so schnell wie möglich wieder zu entlassen, um die Liegezeiten zu verkürzen. Das gilt auch für ältere Menschen.

Marek: Wenn aber das Entlassungsmanagement in einem Spital nicht gut funktioniert, wir als extramurale Pflege nicht die notwendigen Informationen bekommen, dann landen diese Menschen schnell wieder im Krankenhaus. So erklären sich auch die vielen Wiederaufnahmen. Es ist eine Art Drehtüreffekt. Oft landen dann die Menschen in einem anderen Spital, dort wird wieder der ganze Diagnoseprozess von vorn aufgerollt. Das ist auch fürs System teuer. Wir würden gerne bedürfnisorientiert am Patienten arbeiten. Im derzeitigen System ist das die große Herausforderung.

Standard: Wie ließen sich die Neuaufnahmen verhindern?

Kapounek: Durch ein entsprechendes Entlassungsmanagement. Sobald Patienten stabilisiert sind, kommen sie bei uns auf die Akutgeriatrie, wo wir an der Mobilisierung und Aktivierung arbeiten. Ganz zentral ist die Medikamenteneinstellung, aber auch Physiotherapie und Ergotherapie sind wichtig. Wir trainieren dort das Ein- und Aussteigen aus der Dusche oder Badewanne, manchmal geht es auch darum, dass die Menschen mit dem Schlüssel ihre Tür wieder aufsperren können. Das ist Teil unseres Therapiekonzeptes. Oft müssen wir uns auch die Wohnungen anschauen, um uns ein Bild zu machen, welche Maßnahmen erforderlich sind. Und wir sprechen mit den Angehörigen. Dieses Entlassungsmanagement ist für die Lebensqualität älterer Menschen entscheidend.

Marek: Entscheidend ist, dass Ärzte und Krankenhauspersonal diesen umfassenden Blick auf Patienten entwickeln. Das hat viel mit Bewusstsein zu tun. Denn es geht nicht nur darum, was ältere Menschen medizinisch betrachtet draußen brauchen, sondern auch, wie sie zu Hause leben. Die chronischen Wunden heilen nicht, wenn es in der Wohnung schmutzig ist. Viele schlafen auf dem Diwan, bräuchten aber ein Krankenbett.

Standard: Aber die meisten Spitäler haben doch dieses Entlassungsmanagement?

Kapounek: Nicht alle kümmern sich um die soziale Situation, oft ist das ja auch sehr mühsam. Ich kenne Situationen, in denen wir mit Familientragödien konfrontiert sind, nicht alle verstehen sich gut mit ihren Eltern. Entscheidend ist der sogenannte Situationsbericht, das ist ein elektronischer, Krankenhausträger übergreifender Akt, der den extramulen Pflegeeinrichtungen wie etwa dem Fonds Soziales Wien zur Verfügung stehen muss, damit die sich vorbereiten können. Eine unangekündigte Entlassung von Pflegebedürftigen ist ein Super-GAU, der unter allen Umständen zu verhindern ist.

Standard: Wie erkennt man, ob das Entlassungsmanagement eines Spitals gut ist?

Marek: Wenn die gesamte Lebenssituation eines Menschen dort erfasst ist. Angehörige erkennen es, indem die Entlassungsmanager dort Fragen stellen, die weit über die medizinische Versorgung hinausgehen. Und ganz wichtig: Wir von der Pflege müssen rechtzeitig, also mindestens drei Tage vor der Entlassung, Bescheid wissen, um alles vorbereiten zu können.

Kapounek: Entlassungsmanagement braucht vor allem auch Sozialarbeiter, die sich um bürokratische und finanzielle Aspekte kümmern, damit sind die Pflegenden in den Spitälern überfordert. Umgekehrt wissen die aber sehr viel genauer, was medizinisch notwendig ist. Das Zusammenspiel dieser beiden Berufsgruppen ist entscheidend.

Marek: Richtig schwer tun wir uns mit Menschen, die keine mobilen Pflegeangebote in Anspruch nehmen wollen.

Kapounek: Vertrauen aufbauen ist keine einfache Sache. Oft werden wir zu Mediatoren. Das hat dann nichts mehr mit Medizin, sondern nur mehr mit Menschsein zu tun. Wir empfehlen älteren Menschen immer, sich um eine Vorsorgevollmacht zu kümmern, also festzulegen, wer sich im Falle einer akuten Verschlechterung um sie kümmern soll. Ich kann nur sagen: Wir erleben sehr oft, dass in dieser Vorsorgevollmacht nicht die Kinder an erster Stelle stehen. So lässt sich ein Stück Selbstbestimmung erhalten.

Marek: Und uns erspart es viele Schwierigkeiten. Pflege funktioniert ja nur, wenn sie mit dem Willen des Pflegebedürftigen konform geht.

Standard: Welche Verbesserungen sind Ihrer Ansicht im jetzigen System dringend notwendig?

Kapounek: Wir brauchen mehr Flexibilität. Krankheit und Pflegebedürftigkeit sind oft sehr nahe beieinander, werden aber vom System als vollkommen getrennt betrachtet. Die medizinische Versorgung wird über die Spitäler geregelt, Pflege kommt aus dem Sozialtopf. Wir wünschen uns eine Brücke zwischen diesen beiden Bereichen, um die Versorgung älterer Menschen in bürokratischer Hinsicht verbessern zu können. Das heißt: Die zwei Finanzierungssysteme Gesundheit und Soziales sollten für Pflegethemen, die krankheitsbedingt bestehen, zusammengeführt werden.

Marek: Der Zugang zur Pflege, die ja eine Sozialleistung ist, ist derzeit viel langwieriger als der Zugang zu Medizin. Krankenhaus ist gratis, Pflege, auch wenn sie nur für kurze Zeit gebraucht wird, teilweise selbst zu bezahlen. Das Geld kommt aus unterschiedlichen Quellen. Da ist doch klar, wie sich jemand in einer akuten Situation entscheidet. Nämlich fürs Spital.

Kapounek: Wirklich viel Sinn würde ein Pflegenotruf machen, an den sich die Menschen mit versorgungsrelevanten oder eindeutigen Fragen zur Pflege wenden können. Man muss die Ergebnisse der modernen Hightech-Medizin auch außerhalb des Spitals sichern können, sonst ist das gesamte Ergebnis gefährdet. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 16.01.2012)