Über den Osloer Attentäter Anders Breivik soll nun ein zweites gerichtspsychiatrisches Gutachten angefertigt werden. Das erste war zu dem Schluss gekommen, Breivik sei nicht schuldfähig, weil er an einer echten Geisteskrankheit, der paranoiden Schizophrenie, leide. Deren Symptome sind "Wahnvorstellungen, Ich-Störungen und akustische Halluzinationen, bspw. befehlende oder kommentierende Stimmen" (Wikipedia).

Wenn Breivik, der 77 Menschen ermordete, weil er Norwegen vor dem "Massenimport von Moslems", dem "Kulturmarxismus" und dem "globalen Kapitalismus" schützen wollte, ein Geisteskranker ist - sind dann die Millionen Menschen, die in Norwegen und Europa solchen Ideen anhängen, auch geisteskrank? Leidet H.-C. Strache, der gegen die Zuwanderung von Moslems, gegen die "marxistische Linke" und auch gegen den globalen Turbokapitalismus wütet, ebenfalls unter paranoider Schizophrenie?

In Norwegen wurde aus genau dieser Überlegung das erste psychiatrische Gutachten scharf kritisiert, auch von Leuten vom Fach (bei Breivik war z.B. kein "Stimmenhören" festzustellen). Man kann die meisten Äußerungen der extremen Rechten salopp "unzurechnungsfähig" nennen. Sie (und etliche extreme Linke) leben in politischen Wahnvorstellungen, die denen Breiviks gleichen. Aber sie sind verantwortlich für ihr Denken und Tun - und Breivik ist es wohl auch. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.1.2012)