Manfred Nowak vor einer Zelle mit Flüchtlingen in Griechenland.

Foto: DER STANDARD

Das System bröckelt, aber die Systemerhalter (und - profitierer) wollen es nicht wahrhaben. Nein, nicht von der Schuldenkrise in Europa ist die Rede, mit den Staaten vielfach in der Rolle von Kaninchen, gezwungen, auf die Schlange(n) namens Ratingagenturen starren, statt - als eine von vielen Maßnahmen - eine gemeinsame Fiskal- und Wirtschaftpolitik voranzutreiben. Auch wenn sich dieses Thema angesichts des Verlusts der drei A durch Standard & Poors (auch) für Österreich jetzt geradezu aufdrängt.

Hier geht es vielmehr um den Zustand des gesamteuropäischen Flüchtlingswesens - also den bestehenden Ansätzen dazu -, die derzeit, wie das Finanzwesen auch, vor allem wegen Krisenhaftigkeit Schlagzeilen macht. Weil die bisher vereinbarten gemeinsamen Regeln einzelstaatlich egoistisch angewendet werden, ein Land gegen das andere, höchst unsolidarisch. Und weil aufgrund dieser Eigenbrötelei kein Antrieb für wirkliche, menschenrechtskonforme Gemeinschaftlichkeit auf EU-Ebene besteht.

Dabei wäre mehr Gemeinsamkeit die einzige Lösung. Gegen Missstände, wie sie 2010 etwa der damalige UNO-Sonderbotschafter über Folter, Manfred Nowak, bei seiner letzten Mission in dieser Funktion vorfand. Die führte ihn nach Griechenland, wo er, wie auf dem Foto zu diesem Blogeintrag zu sehen ist, zum Beispiel hunderte in eine einzige Zelle gepferchte Flüchtlinge vorfand. Dabei dürfen Schutzsuchende nicht inhaftiert werden, nur weil sie Schutzsuchende sind und unter den vorgefundenen Bedingungen ist auch die Einsperrung von Straftätern untersagt. Ein vor wenigen Wochen publizierter Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarats bestätigt die unhaltbaren griechischen Asylzustände erneut.

Scheuklappen-Wahrnehmung

Diese Asylzustände haben bekanntlich auch mit der Dublin-II-Verordnung zu tun, die bestimmt, dass jener EU-Staat für das Asylverfahren eines Flüchtlings zuständig ist, in dem er oder sie erstmals Unionsboden betreten hat. Auf diese Art bürdet das Dublin-II-System Randstaaten der EU die meisten Flüchtlinge auf. Zudem, so meinen Kritiker, wurde die nämliche Verordnung 2003 überstürzt vereinbart, mit einem hehren Ziel vor Augen. Dublin II, heißt es, sei unter der falschen Voraussetzung beschlossen worden, dass Asylwerber in allen Vertragsstaaten den gleichen, hohen, europäischen Menschenrechtsstandards entsprechend behandelt würden: ein klarer Fall von Scheuklappen-Wahrnehmung.

Das rächt sich jetzt, denn der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof, der EGMR, ist auf dem Weg, Dublin-II-Rückschiebungen in einen nach dem anderen Problemstaat zu unterbinden. Konkret sind nach Griechenland, wohin seit einem EGMR-Entscheid im Jänner 2011 kein Asylwerber mehr rückgeführt werden soll, in den vergangenen Tagen und Wochen auch Ungarn und Italien ins Zwielicht geraten. Zuletzt hat das Höchstgericht eine Rückschiebung aus Österreich nach Ungarn - dem zunehmend autoritär regierten Land, wo Asylwerber bis zu einem Jahr im Gefängnis sitzen, nur weil sie Asylwerber sind.

Aus dem Innenministerium in Wien hieß es daraufhin, es habe sich „nur um eine Einzelfallentscheidung" gehandelt. Das war, mit Verlaub, eine wenig zukunftsorientierte Bemerkung, denn derartige einzelfallbezogene Abschiebestopps in letzter Minute bildeten auch die Vorhut des Griechenland-Rückführungsmoratoríums. Und dass Flüchtlinge in Italien vielfach auf sich allein gestellt bleiben, was Rückführungen vor allem Angeschlagener und psychisch Kranker menschenrechtlich höchst problematisch macht, ist auch nicht erst seit gestern bekannt.

Das Wanken ignorieren

Doch die Ministeriumsreaktion bringt gut zum Ausdruck, wie man in Österreich offiziellerseits auf das Wanken des Dublin-II-Systems zu reagieren gedenkt: Man will das Wanken ignorieren, so lange es irgendwie geht - um bis dahin so viele Flüchtlinge wie möglich in die Erstaufnahmestaaten zurückschicken, denn das ist für die Regierenden innenpolitisch hilfreich. Wie sagte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) beim Hintergrundgespräch vor eineinhalb Wochen, bei dem sie auch gegen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als „Ankerkinder" und Asylwerber-Taschengeld-„Missbrauch" Position bezog?: „In den meisten EU-Staaten ist man für Dublin II. Und für Österreich ist es außerdem vorteilhaft." Eben.

Denn Österreich liegt, wie es schon in der Bundeshymne heißt, „dem Erdteil inmitten". Als EU-Binnenstaat ist es zudem in Anwendung von Dublin II für nur mehr wenige Flüchtlinge Ersteintrittsland in die Union. Eigentlich nur, wenn die Schutzsuchenden per Flugzeug kommen oder es geschafft haben, ohne Fingerabdruckabnahme bis hierher vorzudringen. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache findet es ja überhaupt skandalös, dass in Österreich immer noch Asylanträge gestellt werden, das Land sei von „sicheren" Rückschiebestaaten umgeben. Beachtlich: So wird ein Freiheitlicher zum Fan einer EU-Verordnung.

Einer EU-Verordnung, die aufgrund ihrer Konstruktionsfehler zu massiver Entsolidarisierung im EU-Asylwesen geführt hat. Doch hierzulande dürfte mit mehr Solidaritätsbereitschaft leider auch nicht für den Fall zu rechnen sein, dass Dublin II, nach vielen weiteren „einzelfallbezogenen" Rückschiebestopps und - vielleicht - weiteren Länderentscheiden à la Griechenland an seinen Widersprüchen endgültig scheitert. Mit europäischer Stimme zu sprechen dürfte man nur bereit sein, um an den EU-Außengrenzen eine noch rabiatere Flüchtlingsabwehr zu organisieren (und mitzufinanzieren), die mit den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention nur schwer zu vereinbaren ist. Aber hoffentlich ist das allzu pessimistisch gedacht. (Irene Brickner, derStandard.at, 14.1.2012)