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Das rettende Festland war zum Greifen nahe, auf der Costa Concordia, die am Freitag aus noch ungeklärter Ursache einen Fels gerammt hat, spielten sich dennoch dramatische Szenen ab.

REUTERS/Remo Casili

Die panischen Schreie der Passagiere, die in einem der Rettungsboote Platz finden wollen, und das hektische Gebrüll der sichtlich überforderten Sicherheitscrew der Costa Concordia werden durch einen lauten Knall zerrissen. Normalerweise werden die Tender von Stahlseilen gesichert. Diese zu lösen hat die Crew aber vergessen, bevor sie das erste Boot auf der Steuerbordseite zu Wasser lassen wollte. Das Rettungsboot droht sich zu überschlagen. Die Passagiere fliegen umher, wie rund eine Stunde zuvor an Bord der Costa Concordia Teller, Gläser und Vasen, als das Schiff der Costa Crociere vor San Giglio an Backbord einen Felsen rammt.

Die Situation ist der Auftakt für das endlose Chaos unter den Sicherheitskräften bei dem Seenotfall. Wenige Minuten später fällt ein vollbesetztes Rettungsboot ins Meer. Obwohl auf der Rettungsplattform auf Deck 4 inzwischen gefährliche Hektik ausgebrochen ist, hört man aus dem Boot die Schreie der Passagiere.

Recht des Stärkeren zählt 

Wie ein geschlagener Riese verbeugt sich die 290 Meter lange Costa Concordia vor dem Felsen der Insel San Giglio, der zum Greifen nah scheint. Der Weg bis zum Hafen, den die Tender nehmen werden, dauert nur wenige Minuten. Doch das gibt jenen Menschen, die noch nicht darin sitzen, wenig Hoffnung - denn schnell ist klar: Bei weitem nicht alle werden darin Platz finden. Immer mehr zählt das Recht des Stärkeren. Mehrere alte, gehbehinderte Personen bleiben auf der Strecke.

In einer Ecke liegt regungslos ein alter Mann auf dem Boden. Sein Blick ist starr, seine Haut kreidebleich, er atmet hektisch. Die Crew kümmert sich nicht um ihn. Der Luxusliner neigt sich immer stärker, die Panik wächst. Mehr als die Hälfte der Tender ist nun im Wasser - keiner ist ohne Komplikationen dorthin gekommen; am Weg zum Hafen sind mehrere kollidiert. Es wird ruhiger an Bord. Man hört, wie Gegenstände über Decks rutschen, irgendwo anschlagen, mitunter zerbersten.

Einige Passagiere versuchen, auf die hohe Seite des Schiffes zu gelangen, um vielleicht dort Platz in einem Rettungsboot zu finden. Dabei erscheint an Backbord die Lage so aussichtslos wie an Steuerbord. Es hat sich herumgesprochen, dass dort die Tender wegen der Schräglage nicht zu Wasser gelassen werden können. Als sich ein Franzose zu einer Türe hochhantelt und diese öffnet, reißen ihm die Gegenstände, die ihm entgegenkommen, fast die Beine weg.

"Jetzt haben wir den Mist" 

Mit den ersten Tendern, die vom Hafen zurückkehren, setzt ein großer Teil der Besatzung über. Unter den Passagieren ein Deck höher macht sich Resignation breit. Bei ihnen steht einer der Offiziere der Costa Concordia. Er schüttelt den Kopf darüber, was gerade passiert. "Jetzt haben wir den Mist", sagt der Italiener.

Als endlich wieder Tender zurückkommen, können wir auf Deck 3 einen besteigen. Die Schienen, auf denen die Boote zuvor hingen, liegen nun so tief, dass der Tender gleich dreimal damit kollidiert. Metall- und Plastikteile knallen hinein. Schreie, Verzweiflung, Todesangst - so wenige Meter vor der Küste. Wir sind die Letzten, die trockenen Fußes von der Costa Concordia kommen.

Es wird eine chaotische, lange Nacht für die 4000 Passagiere. Sie tragen nichts bei sich als das, was sie anhatten. Bei der Einschiffung auf die Rettungsfähre hat eine einzige Person die Namen derer notiert, die an Bord gingen. An Land erledigt das wieder ein einzelner Beamter. Über 4000 Mal. Tausende Menschen warten, frieren, weinen, fluchen. Doch sie hatten Glück. Sie haben die letzte Fahrt der Costa Concordia überlebt."(Guido Gluschitsch, DER STANDARD Printausgabe, 16.1.2012)