In der Ö1 Sendung "Im Gespräch" (Donnerstag 12. Jänner, 2012) diskutierte Renata Schmidtkunz mit dem Psychotherapeuten Arnold Retzer über das Thema "Wer Geld machen will, investiert nicht mehr in Drogen, sondern in Psychopharmaka". Der Titel erscheint mir ein wenig irreführend, da sich die beiden Gesprächspartner im Laufe der Sendung hauptsächlich mit der Depression als Kulturphänomen und nur in eingeschränktem Maße mit der Rolle der Pharmalobby beschäftigten, die, so wurde gesagt, vor allem daran interessiert sei, eine allgemeine Auffassung von Depression zu zementieren, die sowohl Ursache als auch Lösungsstrategie ausschließlich in der biologischen Sphäre verortet. Die Quintessenz der Sendung, die mit einem Verweis auf zweierlei Auswege aus der Depression, nämlich "Trauer/Tränen" und "Wut" endet, gestaltete sich hoch politisch: "Die in weiten Teilen der Gesellschaft um sich greifende Depression ist ein hoch politisches Phänomen, kein Versagen der/des Einzelnen, die/der es nicht geschafft hat, seines/ihres Glückes Schmied zu sein."

"Ich bin unfähig, ich mache alles falsch"

Ich stieß auf die Sendung am Freitag, nachdem ich den Vorabend damit verbracht hatte, den verzweifelten Schilderungen einer Freundin zu lauschen, die an einer Depression litt und nach einem optimistischeren Zeitabschnitt nun scheinbar wieder dabei ist einen Rückfall zu erleiden. Während unseres Gesprächs kreisten meine Gedanken um die Frage, wie ich ihre Aussagen (sie sei "unfähig" und würde "alles falsch machen") begegnen sollte. Ich begann rational abzuwägen und führte ihr vor Augen, dass es keinerlei Basis für derartige Selbstzweifel gäbe. Ich erzählte ihr von meinen eigenen Selbstzweifeln und den Mechanismen, die mir aus den Löchern helfen, in die wir ja alle ab und zu fallen. Sie hörte zu. Sie wog ab. Sie stimmte mir zu. Ich umarmte sie und wir gingen beide schlafen. Am übernächsten Tag rief mich ein gemeinsamer Freund an und erzählte mir, dass er von dieser Freundin am Vortag mitten in der Nacht in Tränen angerufen worden sei... Sie wird wohl wieder Medikamente nehmen müssen.

Beruflicher Erfolg als Leitwert?

Ich bin wütend. Wütend auf meine Freundin, weil sie nicht konkret festmachen kann, woher die Hirngespinste kommen, die sie so peinigen. Wütend auf mich, weil ich weiß, dass ich nicht wütend auf sie sein sollte, da sie ja "krank" ist. Wütend auf all jene (inklusive mir selbst), die täglich unreflektiert vorleben, dass beruflicher Erfolg und gesellschaftliches Ansehen die wichtigsten Kriterien für ein ausgewogenes Selbstwertgefühl seien.

Popstars und Dauerparty

Wir leben in einer Zeit, in der jeder zum Popstar in seiner Nische werden möchte und in der "Party machen" zum Fetisch erhoben wurde. Wir leben in einer Gesellschaft, die "die Eliten" als Schimpfwort abtut und gleichzeitig die Diktatur der selbstverantworteten Individualautonomie verherrlicht. Wir leben in einer Kultur, die es verlernt hat, den behütenden Aspekt von Hierarchien zu erkennen und damit die Menschen um ihr Recht gebracht hat, sich durch eine Abgabe gewisser Sorgen nach oben, zu entlasten.

Wollen wir wirklich alle dermaßen autonom sein? Oder haben wir einfach alle so große Angst davor, Verantwortung über andere Menschen zu übernehmen, so dass wir uns still und leise davon stehlen nach dem Prinzip "ich misch mich bei dir nicht ein, also misch du dich nicht bei mir ein?"

Verantwortung übernehmen

Ich möchte zum Schluss die anfängliche Feststellung über die politische Dimension des Kulturphänomens Depression wieder aufgreifen und den Gedanken der Wut in diesem Zusammenhang weiterspinnen, der am Ende der Sendung noch kurz auftauchte. In meinen Augen sollte man den Diskurs über Depression von denjenigen, die an ihr leiden, auf diejenigen ausweiten, die indirekt als Freunde, Partner oder Familienangehörige davon betroffen sind. Wir sollten aufstehen und uns Gehör verschaffen. Wir dürfen uns nicht zu Komplizen der Pharma-Lobby und der Erfolgsprediger machen, indem wir unreflektiert die Auffassung wiederkäuen, dass Depression nur ein biologisches Problem sei. Wir sollten wütend sein und unserer Wut darüber öffentlich Luft machen, und nicht resignativ dabei zusehen, wie die Einnahme von stimmungsaufhellenden Medikamenten zu einem fixen Bestandteil unserer gesellschaftlichen Praxis wird.

Wir dürfen uns nicht über eine Individualisierung der Problematik unserer gesellschaftspolitischen Verantwortung entledigen. (Leser-Kommentar, Julian Benedikter, derStandard.at, 16.1.2012)