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Derzeit gibt es keine freie Sicht auf die Vorgänge am Budapester Regierungs- und Parlamentssitz. Binnen eines Monats sollen sich die Nebel lichten.

Foto: APA/Szandelszky

Premier Orbán hat Zeit zur Reparatur, stellt sich den EU-Abgeordneten.

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In den Tagen größter Bedrängnis greift Ungarns Premierminister Viktor Orbán zu einer für ihn typischen Methode: Er geht zur Gegenoffensive über.

Nur so ist zu erklären, warum der Nationalkonservative, der gegen Widersacher in Budapest mit sehr harten - Kritiker sagen autoritären - Mitteln vorgeht, im Europaparlament in Straßburg einen einzigartigen Auftritt bekommt.

Dort wird er sich heute, Mittwoch, direkt den Abgeordneten stellen, die ihm fraktionsübergreifend nicht weniger als üble Verstöße gegen europäisches Recht und Grundwerte vorwerfen: durch Aushöhlen der Unabhängigkeit der ungarischen Zentralbank via Postenvergabe an der Spitze an Parteileute; durch Einschränkungen beim Datenschutz via Ombudsmann; durch Zugriff auf unabhängige Richter mittels "Frühpensionsregelung".

Verfahren eingeleitet

Die EU-Kommission hat gegen seine Regierung in diesem Zusammenhang am Dienstag gleich mehrere EU-Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die landen am Ende beim EU-Höchstgericht in Luxemburg zur Letztentscheidung, wenn die Regierung in Budapest nicht einlenkt. Notwendig wurde dies vor allem, weil Orbán über Wochen auf dringende Änderungsaufforderungen durch die Kommission und deren ebenfalls christdemokratischen Chef José Manuel Barroso nicht reagiert hat.

Stattdessen schrieb der Ungar einen Brief an den Noch-Parlamentspräsidenten Jerzy Buzek. Inhalt: Er wolle seine "Argumente" öffentlich, vor dem EU-Parlament, vortragen. Man tue ihm Unrecht. Die Fraktionen fanden das gut, da Innenpolitik ja Europa sei und umgekehrt. Man lud ihn ein.

Deshalb wird Orban also vor seinen "politischen Anklägern" sprechen, mit ihnen diskutieren: nicht in einem verschwiegenen Ausschuss, sondern im Plenum. Das gab es noch nie. Noch nie hat ein Regierungschef der Union vor den Europaabgeordneten "innenpolitische" Maßnahmen und Gesetze in seinem Land debattiert. Das ist so in den Verträgen nicht vorgesehen. Den "großen Auftritt" kriegen sonst nur EU-Vorsitzende oder Staatsoberhäupter von Drittstaaten à la Papst oder Barack Obama.

"Das Europäische Parlament muss der Ort der Auseinandersetzung über die Europapolitik sein, deshalb ist es gut, wenn er kommt", sagte dazu der Dienstag zum Buzek-Nachfolger gewählte neue Präsident Martin Schulz. Als Chef der sozialdemokratischen Fraktion gehörte er stets zu den schärfsten Kritikern Orbáns.

Ob es sogar zur Einleitung eines EU-Verfahrens nach Artikel 7 des Vertrags, Verstöße gegen Grundrechte, kommt, wie Teile der Grünen das wollen, wird nicht zuletzt von dessen Auftritt abhängen. Bei den Christdemokraten erwartete Othmar Karas (ÖVP) "eine Erklärung des Ministerpräsidenten von Ungarn, dass alle Wünsche von Kommission und Parlament umgesetzt werden". Angesichts der notorischen Verweigerung Orbáns bisher wäre das allerdings eine Überraschung. Skeptisch zeigt sich die SPÖ. Jörg Leichtfried: "Orban lebt in einer anderen Welt." Er werde dem Vernehmen nach nur in Teilen, insbesondere bei der Zusicherung der Unabhängigkeit der Notenbank, Zugeständnisse machen.

Nach den Worten von Kommissionschef Barroso ist die ganze Angelegenheit nicht eine Frage von Zugeständnissen oder Erklärungen, sondern schlicht ein juristisches Problem, das gelöst werden muss. Sein Kollegium befürchtet, dass die Unabhängigkeit der involvierten ungarischen Institutionen gegenüber der Regierung - Notenbank, Datenschutzbehörde und Richterschaft - nicht garantiert werden könne.

Finanzhilfen unsicher

Die Einleitung der Verfahren ist gemäß EU-Recht nur der Auftakt zu einem langen Prozess. Ziel ist es, den rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen, notfalls per Entscheid des EuGH, der einem Land empfindlich hohe Strafen aufbrummen kann. Ungarn hat jetzt aber einmal einen Monat Zeit, die Änderung der beanstandeten Gesetzesbestimmungen in Angriff zu nehmen. Normalerweise hat ein Land dafür drei Monate Zeit. Die Kommission verkürzte die Frist jedoch.

Für Ungarn ist die Sache deshalb heikel, weil es Milliardenhilfe von EU und Währungsfonds (IWF) braucht. Der IWF will nicht helfen, wenn das Notenbankgesetz nicht geändert wird. (Thomas Mayer aus Straßburg, DER STANDARD, Printausgabe, 18.1.2012)