Nüchterne Beobachter in Ungarn fassten die Einleitung der drei Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische Kommission als ernste Warnung auf. "Es ist eine wichtige Botschaft, mit der die Kommission der ungarischen Regierung sagen will, dass sie über die Zustände in Ungarn sehr besorgt ist", erklärte der Politologe Tamás Boros, Direktor des Thinktanks "Policy Solutions", am Dienstag.

"Die konkreten Gegenstände der Verfahren sind für sich genommen nicht so bedeutend. Vielmehr ging die Kommission wohl davon aus, dass sie diese Verfahren (vor dem Europäischen Gerichtshof) auch gewinnen kann." Mehr als 200 Gesetze hat die Regierung des Rechtspopulisten Viktor Orbán seit ihrem Amtsantritt im Mai 2010 durch das Parlament gepeitscht. Die meisten davon dienten dem radikalen Umbau des Staates - und der Festigung der Macht des Ministerpräsidenten, der in einer Person auch Chef der Regierungspartei Fidesz (Bund Junger Demokraten) ist.

Die Gesetze sind in der Regel sehr geschickt kodifiziert. Oft werden Passagen aus den Gesetzen anderer europäischer Länder wortgetreu übernommen. Ihren restriktiven und repressiven Charakter entfalten sie erst im Gesamtkontext. Der EU-Kommission fällt es deshalb nicht immer leicht, eindeutige Angriffsflächen zu finden. Beim restriktiven Mediengesetz gelang etwa den Regierungsjuristen der "Nachweis", dass jeder einzelne Artikel irgendwo so auch in irgendeinem europäischen Medien- oder Pressegesetz steht. Da braucht es dann sehr komplexer Argumentationen, um derlei Rechtfertigungen zu widerlegen, wie dies etwa das Zentrum für Medien- und Kommunikationsforschung der Central European University in Budapest mit der 200 Seiten starken Studie "Hungarian Media Laws in Europe" erfolgreich unternahm.

Orbán nimmt die Einleitung der Verfahren gelassen auf. Er hat sie sehenden Auges provoziert, denn die strittigen Gesetze und Verfassungspassagen wurden trotz wohlwollender Warnungen der Kommission angenommen. Auffällig ist, dass die Medien, die von Orbán-nahen Geschäftsleuten kontrolliert werden, die Stimmung gegen die EU zuletzt deutlich anheizten. Magyar Nemzet, Orbáns Sprachrohr, erschien letzte Woche mit der Schlagzeile, die EU stelle Legalisierung der Schwulen-Ehe und Verschonung von Ferenc Gyurcsány - gegen den sozialistischen Ex-Premier läuft derzeit ein Ermittlungsverfahren wegen Amtsmissbrauchs - als Vorbedingungen für Kreditverhandlungen. Die Behauptung war natürlich völlig aus der Luft gegriffen.

Eine Gruppe von Propagandisten der Orbán-Medien rief indes Fidesz-Anhänger dazu auf, mit einer sogenannten "Friedensprozession" durch Budapest am kommenden Samstag dagegen zu protestieren, "was das heutige Europa mit Ungarn und seiner Regierung aufführt". (Gregor Mayer aus Budapest, DER STANDARD, Printausgabe, 18.1.2012)