Cinematografische Aufzeichnungen zur Symbolik eines Untergangs anhand des letzten, auf der "Costa Concordia" gedrehten Films von Jean-Luc Godard.

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"Attenzione - Abandonare la nave - Abandonare la nave - Abandonare la nave - Abandon Ship - Abandon Ship - Abandon Ship."

Dreimal ertönt die warnende Durchsage vom Bordlautsprecher, während das Schiff unbeirrt bei Tag und Nacht das stürmische Meer durchpflügt.

In seinem bisher letzten Werk "Film Socialisme" aus dem Jahr 2010 versammelt Jean-Luc Godard den Philosophen Alain Badiou, den Ökonomen Bernard Maris, den palästinensischen Historiker Elias Sanbar, die Sängerin Patti Smith, einen Leutnant des französischen Geheimdiensts und diverse Agenten und Journalisten inmitten einer bunt zusammengewürfelten Schar Pensionisten an Bord der "Costa Concordia" .

Das Innendesign des Luxusdampfers orientiert sich an den Ländern Europas, nach denen auch die Decks benannt wurden: Das oberste ist das Polonia-Deck, darunter das Austria-Deck, das den Großteil des Oberdecks ausmacht, darunter Spagna, Germania, Francia, u.s.w. Im Inneren liegt das "Atrium Europa" , von dem aus die Gänge weiterführen in die Casinos, Diskotheken, Theater und Bars, die europäische Städtenamen tragen: Lisbona Diskothek, Salone Londra, Berlino Grand Bar, Atene Theatro. Der Kreuzer beherbergt zudem das zur Bauzeit weltweit größte Wellness-Center an Bord eines Schiffes, 4D (!)-Kino, fünf Restaurants, und vieles mehr.

Am 15. Juli 2006 ist das Schiff das erste Mal auf Kreuzfahrt gegangen. Nun liegt das Symbol eines in vergnügtem Zusammenleben vereinten Europa seit vier Tagen vor der Küste der Toskana auf Grund. Bei Godard scheitert die Eintracht Europas zwar noch nicht, weil sie sich zu sehr den unsicheren Küstenverläufen Italiens näherte, doch die historischen Reminiszenzen an vergangene Finanzkrisen vom Verschwinden der spanischen Goldreserven auf dem Weg nach Russland bis zum Verbleib des Goldes der Bank von Palästina, als die Engländer Israel verlassen, bringen auch schon im Film das Schiff gehörig vom Kurs ab. Aktuelle Praktiken der Finanzverwaltung werden auch hier von den Schiffslautsprechern angepriesen: "Meine Damen und Herren, guten Nachmittag, versäumen Sie nicht um 6 Uhr 45 in die Bar Berlino auf Deck fünf zu kommen, wo ein Superbingo gespielt wird, garantierter Mindestpreis 500 Euro!" "Meine Damen und Herren, guten Tag. Jetzt spielen wir unser Superbingo im Berliner Salon, Deck 5, 6 Uhr 45 Uhr. Viel Spaß"

Im Film beginnt die Reise über das Mittelmeer in Algier und endet in Barcelona. Während die Kreuzfahrt im Jänner 2012 nach Marseille, Barcelona, Palma de Mallorca und Palermo kurz nach Civitavecchia endete, führte die Route im Film, ausgehend von Algier, auf Umwegen über Civitavecchia und danach weiter nach Savona, Neapel, Haifa, Alexandria und Odessa.

Irritierende Montagen

Auf den Stationen der Reise drängen bei Godard Unheil verheißende Erinnerungen - in Form von Zitaten des Schriftstellers Curzio Malaparte und des Historikers Fernand Braudel - ins Geschehen. Zum Beispiel in Neapel die Befreiung Italiens durch die alliierten Truppen im 2. Weltkrieg: "Dieses arme Europa, durch das Leid nicht gereinigt, sondern verdorben, durch die erlangte Freiheit nicht erhoben, sondern erniedrigt." - "Führen wir nun wieder die Dauer ein. Noch bezeichnender als die Tiefenstrukturen des Lebens sind ihre Bruchstellen, ihre unvermittelte oder langsame Beschädigung." - "Unglücklicherweise kopieren wir das gleiche Modell das auf die Mittelmeerländer der Antike zurückgeht. Mit ihrem Duft, ihren Farben und ihren Behauptungen haben sie das ganze Leben der westlichen Welt gefärbt." - "Ansteckung ist ein uralter Vorgang. Ohne Ansteckung wäre keine Evolution möglich gewesen." - "Die Freiheit kostet viel, aber sie wird nicht mit Gold erkauft. Noch mit Blut, aber mit Feigheit, Prostitution und Verrat. Konnten die Nordamerikaner behaupten, die Völker zu befreien und sie gleichzeitig zwingen, sich besiegt zu fühlen?" Und in einem den Bildern unterlegten Lied der Schauspielerin Mina reimt sich das "Konzert" der Nationen auf "Wüste" : "Immagina un concerto.../ Imagina un deserto..."

Im Film stellt die Montage die Vergangenheit allerdings nicht kommentarlos in das "bunte" Treiben auf dem Kreuzfahrtschiff:

In der Kabine des Philosophen Alain Badiou liest ein Kind, mehrmals unterbrechend und um Verstehen ringend: "Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht und gibt sie ihr als Bewegung zurück, der er den Stempel seiner Freiheit aufgedrückt hat."

Am Ende stellt Godard sich und uns schließlich die vertraute Frage "Quo vadis Europa?"

Neue Begriffskonturen

Diese Montage von Attraktion und Reflexion, die Affinitäten verdeutlicht und Abstoßungsreaktionen provoziert, zeichnet neue Konturen um scheinbar abgewirtschaftete Begriffe wie "Film" und "Sozialismus" . In einem Brief an Godard schreibt der französische Philosoph Jean-Paul Curnier dazu:

In diesem Film wird weder das Kino, noch der Sozialismus gezeigt [..], noch das was das eine oder der andere sein könnten oder müssten. Und auch nicht, wozu sie geworden sind. Vielmehr geht es darum, sie ‚ins Werk zu setzen', bis ein Werk entsteht: Film und Sozialismus gemeinsam, um das Kino und den Sozialismus von der Vergiftung zu befreien, die sie sich zugezogen haben und die ihre Namen befleckt hat. [...] " Was mir zu der unvermittelten Fügung des Titels [...] einfiel, das ist die Neuausrichtung einer Wiederaufnahme der Bewegung. Sozialismus und Kino, diese Leuchtfeuer des vergangenen Jahrhunderts harren noch immer der Aufgabe, nicht etwa verstanden, angenommen oder gar kommentiert zu werden, sondern nach ihrem Maß die Werkzeuge zu gestalten, um sie anzunehmen, wahrzunehmen und zu verstehen. [...] Beide richten an uns den Aufruf, ins Werk zu setzen, eine Kraft in Bewegung zu setzen, die sich nicht um ihr Ziel sorgt, eine Kraft, die die Möglichkeit einer noch ausstehenden Zukunft behauptet, eine Kraft, die nichts mitteilt, nichts übermittelt, sich keinerlei Auftrag unterwirft, sondern eigenständig wirkt und besteht, eine verführerische Kraft des Werdens...."

Inzwischen haben die Retter das Schiff verlassen, das Wrack ist wieder in Bewegung geraten und droht weiter abzurutschen. - Und Europa? (DER STANDARD, Printausgabe, 17.1.2012)