Ein Mann, der sein Volk nicht aus den Augen lässt: Leonardo DiCaprio als FBI-Chef in Clint Eastwoods "J. Edgar".

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 Das Ergebnis ist ein beeindruckender Film, der über das Porträt eines Einzelnen weit hinausgeht.

Wien - Der Regisseur und sein Sujet sind in diesem Fall aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit besonders reizvoll: Clint Eastwood verkörpert in seinen Rollen wie als Regisseur gerne den Individualisten, der in seiner Einschätzung von Recht und Gerechtigkeit den eigenen Fähigkeiten vertraut. J. Edgar Hoover dagegen, Begründer und beinahe 50 Jahre lang Leiter des FBI, ist das Synonym einer Institution, die den großen Teil ihrer Arbeit auf Verdacht und Misstrauen begründet. Indem Hoover über Menschen Daten sammeln und Akten anlegen ließ sowie die Fahndung bundesweit vernetzte, hat er jenen National Security State hervorgebracht, der die westliche Gesellschaft noch heute bestimmt.

Ein Biopic über einen Mann, der mit seinem Apparat verschmolzen ist, inszeniert von einem Regisseur, der sich seit jeher mit gebrochenem US-Heroismus auseinandersetzt - geht das denn gut? J. Edgar gelingt der bemerkenswerte Spagat. Wo sich andere Genre-Beispiele vor allem auf das Spektakel der schauspielerischen Anverwandlung konzentrieren und einzelne Lebensstationen chronologisch durchschreiten, greift Eastwood auf einen einfachen, aber effektiven dramaturgischen Trick zurück: Hoovers Leben und Arbeit wird in elliptisch angelegte Teile zersplittert, die mannigfaltige Perspektiven auf den Menschen und sein Umfeld zulassen. Mit Leonardo DiCaprio hat er zudem einen Star an der Seite, der vielleicht ein wenig zu sympathisch für den Part ist, der historischen Person jedoch zurückhaltend naherückt und dessen innere Widersprüche auszuloten versucht.

Ertragreich sind Hoover und seine so lang andauernde Karriere (von den Roaring Twenties bis Mitte der 1970er-Jahre) schon deshalb, da sich in diesem Zeitraum Amerika entscheidend wandeln wird. Eastwood und sein Drehbuchautor Dustin Lance Black, der auch Gus Van Sants Politikerdrama Milk geschrieben hat, porträtieren den FBI-Chef als jemanden, der sein konservativ geprägtes Bild des Landes hartnäckig bewahren will, dabei aber die Methoden der Verbrechensbekämpfung beständig modernisieren muss. Prägend für Hoover war die Unterwanderung des Staates durch kommunistische Umtriebe - egal, ob real oder imaginär: Überwachung und Paranoia gingen hier ohnehin Hand in Hand.

Der Film interessiert sich allerdings mehr für Hoovers eigene Zerrissenheit als für die seiner politischen Ideen. Entscheidend ist der private Kreis um einen Mann, den seine Kollegen "Speed" nannten, weil er sich vor Eifer mitunter verhaspelte. Judi Dench spielt seine dominante Mutter, die in Eastwoods Interpretation zum Ursprung von Hoovers maßlosen Ambitionen führt.

In einer zentralen Szene, in der es um "Edgars" unterdrückte Homosexualität geht, spricht sie davon, dass sie lieber einen toten Sohn als eine "Narzisse" hätte. Damit sind wir im Zentrum des psychosexuellen Konflikts dieses Mannes: Als er nach dem Tod der Mutter ihr Kleid überzieht, ist Hitchcocks Psycho - eine weitere Geschichte eines Mannes, der sich mit seiner Mutter identifiziert - keine verkehrte Analogie.

Held aller Amerikaner

Eastwoods von klassischer Eleganz getragene Inszenierung findet mit erstaunlicher Sicherheit zur richtigen Dosierung solcher schwierigen Szenen. Der Film ist weder Kolportage noch Psychogramm, er legt seine Argumente sachte in Bildern dar und öffnet dabei auch zeitgeschichtliche Fenster. Hoover ist in J. Edgar nicht einfach ein Mann, der auf die Erfordernisse reagiert, wenn er Gangster bekämpft und das Image von Polizisten verbessern möchte. Er verteidigt auch ein Ethos - das er dann jedoch unaufhörlich selber bricht - und sucht die Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Er wäre gerne ein Held des amerikanischen Volkes.

Dazu kommt es jedoch nie, weshalb Hoovers Erinnerungen im Film zu misstrauen ist - er beschönigt einfach zu viel. Solcher Legendenbildung verleiht der Film freilich einen dezenten Hauch von Melodramatik: Denn Eastwood attestiert Hoover indirekt, das falsche Leben gelebt zu haben. Sein engster Mitarbeiter und Berater Clyde Tolson (Armie Hammer), der zugleich sein Lebensgefährte war und ihn liebte, sieht das ähnlich und versucht ihn immer wieder zu bekehren. Notfalls drückt er ihm auch mit Gewalt einen Kuss auf die Lippen. Aber Hoover ließ das einfach nicht mit sich machen, er war sich selbst verdächtig. (Dominik Kamalzadeh      / DER STANDARD, Printausgabe, 19.1.2012)