Der Herr Wirt hat serviert und zuweilen auch insistiert. Leodegar Pruschak und Rudolf Müllner (v. l.) haben recht wenig konsumiert, dafür umso mehr analysiert, was Kitzbühel, was die Streif ausmacht, was überdacht, was bewahrt werden muss.

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Wien - Der Stammtisch hat keine angestammte Zeit, weshalb auch kurz nach neun Uhr früh in der sonst leeren Gaststube "Zum Holunderstrauch" die Streif sehr schnell sehr präsent ist. Die Erfrischungen - ein Verlängerter, Kräutertee - sind der Stunde angemessen. Es trifft sich auch, dass der Herr Wirt, ein Football-Fan, noch seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, dass es 49 Argumente dafür gebe, dass die San Francisco 49ers heuer die Super Bowl erreichen. Die Super Bowl, lässt sich lenkend und zur Erheiterung einwerfen, ist das Kitzbühel des American Football. Also:

Standard: Ist es gut für Ihr Geschäft, dass die Streif fast Jahr für Jahr Schwerverletzte fordert?

Pruschak: "Die publikumswirksamsten, attraktivsten Sportarten können eben ganz selten ohne Risiko ablaufen. Faktum ist, dass die Faszination Kitzbühel sicherlich auch ein bisschen mit dem Spiel mit dem Risiko, der Koketterie mit der Angst zu tun hat. Aussagen wie 'Die Streif ist knusprig wie nie zuvor' beweisen das ja."

Andererseits habe sein erfolgreichstes Testimonial, Hermann Maier, Pruschak immer wieder "das Gefühl gegeben, dass er das Rennfahren auch auf höchstem Risikoniveau beherrscht".

Für den Sponsor sei "je riskanter, desto attraktiver" also kein Kriterium, für die Menschenmassen, die nach Kitzbühel streben oder via TV dabei sind, aber schon. "Kulturtheoretisch faszinieren Sportarten, in denen es um Todesbewältigungsrituale geht", sagt Müllner. "Es ist nett, zu sehen, dass das bewältigbar ist. Dazu zieht die Medieninszenierung, ziehen die tollen Bilder die Leute massiv an."

Standard: Und welche Rolle spielt da die Tradition?

Müllner: "Sie ist ein zentraler Punkt. Dieses Land ist auf Skisport gebaut. Es gibt eine 120-jährige Geschichte, in der praktisch jedes Kind, das den normalen Sozialisationsgang macht, mit Skisport konfrontiert wird. Die Werbung ginge ins Leere, wären die Leute nicht vorgebildet."

Weniger mit Bildung als mit Psychologie hat Müllners dritte Erklärung für das Faszinosum Kitzbühel im Besonderen und Skisport im Allgemeinen zu tun. Im Skisport komme Österreich auf der Weltbühne wirklich zur Geltung. "Da können wir vorn sein, da müssen sich die anderen an uns orientieren. Das ist ein massenpsychologisches Phänomen in der vom Triple-A abgestuften Nation, in der das Trauma vom Zerbrechen des Vielvölkerstaats noch unterbewusst präsent ist."

Standard: Erlebt Kitzbühel nicht eine Wandlung - von der Sportveranstaltung des Jahres über den Sportevent bis hin zum Event, bei dem das Drumherum dominiert?

Pruschak: "Der Eindruck mag entstanden sein, wenn nach Rennabsagen weitergefeiert wurde, aber Kitzbühel hätte nicht den Stellenwert, wenn nicht die weltbesten Skirennläufer außergewöhnliche Leistungen zeigen würden. Das ist ein Ort, an dem Sportgeschichte geschrieben wurde und wird. Die Kombination aus der spektakulärsten, gefährlichsten Abfahrt, aus Sporttragödien und historischen Momenten ist immer noch das Zentrale. Ohne die sportlichen Höchstleistungen würden Society und Show bald verpuffen. Aber aus der Mischung besteht die besondere Marke, der Mythos Kitzbühel."

Für Müllner hat Kitzbühel, das einstige Tiroler Bauernstädtchen, das unverbrauchte Heimatbiotop, mit dem Einzug des globalisierten Medientrosses einen Endpunkt erreicht. "'Hier ist die Welt zu Gast' steht in der Biografie von Toni Sailer. Das hinterwäldlerische Österreich empfängt die Welt. Und wenn die wieder weg ist, bleibt die Erkenntnis: Wir können das."

"Die Kulisse bleibt dort authentisch, echt, die Show zieht ein und aus", stimmt Pruschak zu, der sich begeistert an 40.000 Zuseher bei einer Siegerehrung erinnert. "Das ist Weltrekord."

Standard: Ist es nicht beängstigend, dass sich solche Massen einfinden, um drei Leute auf ein Podest steigen zu sehen?

Müllner: "Das hat mit Personenkult, dem Charisma-Modell eines Max Weber zu tun. Offensichtlich rechnen sich die Menschen etwas aus, wenn sie in der Nähe dieser Personen sind. Das gab es schon in der griechischen Antike. Da ist man zu Siegerstatuen gefahren, um sie zu berühren."

Dem Wissenschafter fällt da auch der Begriff parasoziale Kommunikation ein. "Die wenigsten kennen einen Maier persönlich, viele bauen aber unglaubliche Emotionen auf." Bei Maier sei es nicht nur das Vermögen gewesen, schnell von einem Berg herunterzufahren, sondern das Muster der Rise-and-Fall-Story, die besondere Geschichte des gelernten Maurers, seiner Erfolge, seines Motorradunfalls, seines Comebacks, das just mit einem Sieg in Kitzbühel vollendet wurde. Das ist die Austrovariante des American Dream. Was harte Arbeit ist, kann man sich vorstellen, da kann man andocken, das versteht man in Floridsdorf und im Zillertal."

Pruschak schätzt sich glücklich, schon einige österreichische Topsportler als Werbepartner gehabt zu haben, zählt Niki Lauda, Gerhard Berger, Thomas Muster, Markus Rogan und eben Maier auf. Und mit Marcel Hirscher fährt nun einer mit dem Giebelkreuz, der mit Maier auch die Facette der Coolness gemein habe. Für Müllner sind dessen Fahrten ein Schritt Richtung Unterhaltungsindustrie, "Pop- und Sportkultur verschwimmen".

Standard: Aber Hirscher wird deshalb vom Sponsor nicht nahegelegt werden, etwas aufzuführen, um bald eine Comeback-Geschichte schreiben zu können?

Pruschak: "Marcel 'führt' ja ohnehin auf den Rennstrecken ununterbrochen etwas auf, allein schon durch seinen spektakulären Fahrstil. Hirscher bietet der Öffentlichkeit schon sehr viel, weil er auch in seinen Aussagen sehr natürlich, spontan und originell ist. Das bringen nicht viele mit. Er wirkte beim ersten Treffen mit 19 schon irrsinnig reif und überzeugt vom dem, was er sagt und tut."

"Die Authentizität", fällt Müllner dazu ein, "ist ein ganz zentraler Punkt. Jeder Medienkonsument ist fed up von gemainstreamten, bis zum Gehtnichtmehr gecoachten Personen. Daher kommt ja auch die Politikverdrossenheit, weil alle Politiker so angstbesetzt sind, dass sie nur noch total Belangloses von sich geben. Der Sport ist generell ein Gegenmodell. Er scheint eine Botschaft zu vermitteln, die nicht lügen kann."

Dass ein Hirscher bei der Frage, ob nicht auch die Abfahrt für ihn ein Thema sei, nicht lügt und von Angst spricht, hält Pruschak prinzipiell für gut. Er ist sich aber auch bewusst, dass die ganz großen Skihelden Österreichs auch oder vor allem Abfahrer waren - Toni Sailer, Karl Schranz, Franz Klammer, Maier. "Das ist, ob zu Recht oder zu Unrecht, immer noch ein Unterschied. Aber es ist nicht auszuschließen, dass Hirscher als Seriensieger in zwei Disziplinen im Hinblick auf den Gesamtweltcup irgendwann auch Super-G und Abfahrt fahren wird. Maier sagt, dass bei der Abfahrt die enorme mentale Belastung dazukommt, dass man sich über Tage herantasten muss an den Kampf mit dem Berg. Diesen besondern Nervenkitzel hat man im Slalom nicht."

Müllner findet, dass der Typ Hirscher "im Moment gesellschaftlich gefragt" sei, weil der mit seiner Jugend dem eher verknöcherten Image des organisierten Skisports entgegenwirke. "Hirscher könnte auch ein Snowboarder oder Skicrosser sein, er ist wie eine Verjüngungspille."

Vorantreibend wirkt der Herr Wirt, der sich beim Servieren wirklich nicht überhoben hat. Er erinnert sich nur zu gut daran, dass zuletzt viermal in Folge Schweizer auf der Streif triumphierten. Und er fragt sich, vor allem aber die Runde, ob österreichische Erfolglosigkeit die Marke Kitzbühel beschädige.

Müllner: "Am Tag, an dem es passiert, ist es keine große Bereicherung, wenn ein Schweizer gewinnt. Längerfristig spielt das keine Rolle. Ja, die Aufmerksamkeit wird vielleicht sogar wieder größer. So wie ein Unfall fürchterlich, aber von der Aufmerksamkeitsökonomie nützlich ist." Pruschak gibt zu, dass es zu Zeiten der Topfavoriten Klammer und Maier schon ein paar Tausend Menschen mehr an die Strecke gezogen habe. "Aber man kann das inszenieren, kann etwa sagen, ein Schweizer hat in Wengen gewonnen, jetzt, in Kitzbühel, drehen wir das um."

Namen seien austauschbar - nicht aber der Ort, sagt Müllner. "Kitzbühel ist wie Wengen nicht austauschbar. Bei der Abfahrt ist die Strecke, der Berg schon eine Geschichte. Bei Kitzbühel wird jedes Mal gefragt, ob es heuer pickelhärter ist, als es voriges Jahr pickelhart war. Und wann wird es den Ersten zerfetzen?" Das Erlebnis Streif könne man auch körperlich nachvollziehen. "Jeder weiß, wie das ist, wenn man auf Ski steht, wenn man stürzt. Das ist nahe am Leben, ist berührend." Da stellt sich über leeren Häferln schon die Frage, ob Kitzbühel etwas falsch machen kann.

Standard: Und, kann man?

Pruschak: "Die Unverwechselbarkeit zu erhalten ist das beste Rezept. Gefahr durch eine Event-Inflation, wie sie das Tennis beschädigt hat, droht nicht. Alles Inflationäre ist problematisch. Umso stärker erkennt man den besonderen Charakter von Kitzbühel, von Wimbledon oder Monte Carlo. Diese Marken werden auch in schwierigen Zeiten weniger bis gar keine Probleme mit Sponsoren, Partnern, mit den Medien haben. Kitzbühel muss man aber evolutionär, nicht revolutionär entwickeln."

Müllner: "Vielleicht könnte man die Jugend mit einem Skicross-Rennen als Probebewerb stärker hereinholen. Sie dürfen nicht vergessen, diese Landschafts- und Naturmetapher zu bespielen. Das wird beschädigt, wenn nur mehr gesoffen und Party gemacht wird."

"Das war schon auf der Kippe", gibt Pruschak zu, aber Müllner relativiert selbst: "Das hat auch etwas Kathartisches. Das ganz abschaffen zu wollen wäre so, als ob man ein Rockkonzert veranstaltet, aber gleichzeitig nur ja nicht will, dass sich da jemand einraucht." (Fritz Neumann, Benno Zelsacher, Sigi Lützow, DER STANDARD, Printausgabe, 19.1.2012)