"Alles, was aus dem Ausland kommt, symbolisiert für die Russen das Paradies", sagt Kordonsky.

Foto: derStandard.at/Eder

Trotzdem bewertet er das politische System in Russland als krisensicher.

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Wenn Simon Kordonsky, ehemaliger Redenschreiber Wladimir Putins und nun Uni-Professor in Moskau, über Russland spricht, dann öffnet sich einem eine andere Welt. Eine Marktwirtschaft gebe es in Russland nicht, meint er, die Gesellschaft selbst sei ständisch organisiert. Korruption in Russland will Kordonsky nicht als Verbrechen, sondern als stabiles, notwendiges Element dieses Systems verstanden wissen. Auf Einladung des International Center for Advanced and Comparative EU/Russia (NIS) Research (ICEUR) hielt Kordonsky in Wien unter dem Titel "Tauwetter in Russland?" einen Vortrag, bei dem eher wenig von Tauwetter zu spüren war. Im Interview mit derStandard.at sprach Kordonsky anschließend über die seiner Meinung nach überbewerteten Proteste, Rauchverbote und reiche russische Bettler.

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derStandard.at: "Der Westen versteht Russland nicht", kritisieren Sie in Ihren Vorträgen. Was genau versteht der Westen nicht am System in Russland?

Kordonsky: Russland ist anders organisiert. Ein Bettler in New York und ein Bettler in Moskau sind nicht das Gleiche. In Russland ein armer Mensch zu sein ist ein Beruf. Die Invalidität, dass er zum Beispiel keine Hände hat, wird ausgenützt, um Einkommen zu lukrieren. Damit verdient man bis zu 5000 Dollar im Monat. Im Wesentlichen geben intelligente Menschen Almosen, damit wollen sie Buße tun für ihre Intelligenz, die andere nicht haben.

Die Rolle des Theaters ist in Russland sehr groß, wir haben ein politisches Theater, eigentlich schon einen politischen Zirkus. Diese Elemente finden sich auch auf der Straße. Je ungewöhnlicher ein Bettler aussieht, desto mehr Almosen erhält er. 

Es gibt Menschen, die sich Sorgen machen, dass in Russland die Kinder in Kinderheimen schlecht leben, aber das beruht auf einem äußeren Eindruck. Ein Kinderheim in den USA und ein Kinderheim in Russland sind völlig unterschiedliche Dinge, denn ein Kinderheim in Russland bereitet marginalisierte Menschen auf ihre Karriere als professionelle Diebe und Räuber vor. Es hat andere soziale Funktionen.

derStandard.at: Wodurch unterscheidet sich Russland Ihrer Ansicht nach von westlichen politischen Systemen?

Kordonsky: Anstelle einer freien Marktwirtschaft haben wir in Russland eine Ressourcenwirtschaft und anstatt einer Klassenstruktur haben wir das System der Stände. Es ist nicht das Einkommen per se, das die Position innerhalb der Gesellschaft bestimmt, sondern die jeweilige Quelle des Einkommens. Als Ressource gilt in Russland alles, was verteilt werden kann, von Arbeit bis hin zu Zündhölzern. Diese Ressourcen werden vom Staat je nach Stand verteilt. Im Gegenzug werden sogenannte kickbacks (Schmiergelder, Anm.) bezahlt. Nur eine gewisse "Grenzschicht" der Gesellschaft, zu der zum Beispiel Manager von Gazprom zählen, steht in geschäftlicher Verbindung mit dem Ausland, der Kern der Zivilgesellschaft operiert nach den Prinzipien der Ressourcenwirtschaft.

derStandard.at: Das klingt alles sehr nach einem geschlossenen System, in dem nur jene, die in der "Grenzschicht" sind, mit der globalisierten Welt verknüpft sind. Kann diese Geschlossenheit aber in Zeiten von Globalisierung und neuen Medien überhaupt beibehalten werden?

Kordonsky: Ich denke, das System wird sich weiterhin selbst erhalten können. Unter Krisenbedingungen ist das Ressourcensystem stabiler als zum Beispiel eine Marktwirtschaft. 

derStandard.at: Wie erklären Sie sich aber dann die Proteste nach der russischen Parlamentswahl im Dezember?

Kordonsky: Das sind wohlhabende Menschen aus der Grenzschicht, die sich gekränkt fühlen. Sie glauben, dass sie vom Staat übervorteilt wurden. 

derStandard.at: Ist das also kein Protest gegen Wahlfälschungen und für freie Wahlen?

Kordonsky: Das hängt schon damit zusammen, aber das sind alles nur Anlässe. Diese Proteste sind im Grunde genommen sehr unbedeutend.

derStandard.at: Die Mehrheit der Russen interessiert sich also nicht für freie Wahlen oder eine Sicherstellung der Meinungsfreiheit?

Kordonsky: Um eine Meinung überhaupt frei zum Ausdruck zu bringen, muss man sie erst einmal haben. Eine Meinung entsteht erst dann, wenn der Mensch zu einem Bürger wird. Derzeit sind die Menschen in Russland Ressourcenempfänger und keine Bürger. 

derStandard.at: Es gibt keine Tendenzen, dass sie sich zu Bürgern entwickeln wollen?

Kordonsky: Alles, was aus dem Ausland kommt, symbolisiert für die Russen das Paradies. Die Russen wollen keine Bürger werden, sondern sie wollen nur ein Leben im Paradies. 

derStandard.at: Sie beschreiben das System in Russland als eines, in dem der Staat je nach Stand die Ressourcen und das Geld verteilt und auch sonst nach dem Motto "Eine Hand wäscht die andere" verfahren wird. Eigentlich ist das ja Korruption. Bestreiten Sie das?

Kordonsky: Gegenfrage: Ist die Tatsache, dass Banken mit Geld spekulieren, Korruption? Alles eine Frage der Sichtweise. In Russland ist der Mechanismus, wie wir ihn derzeit haben, maßgeblich, um der Gesellschaft Struktur zu geben. Es geht hierbei nicht um Geld, sondern wie gesagt um Ressourcen.

derStandard.at: Das macht das russische System der Korruption doch nicht besser?

Kordonsky: Na ja, man kann Menschen auch unterdrücken, um sich selbst in eine bessere Position zu hieven - auch eine übliche Praxis in der Welt.

derStandard.at: Es klingt so, als würden Ideale wie Gleichbehandlung vor dem Gesetz absolut keinen Stellenwert haben?

Kordonsky: Es gibt die westliche Kultur mit ihren Institutionen, es gibt die chinesische Kultur, die russische Kultur. Es gibt keinen axiologischen Grund, dass das eine besser und das andere schlechter ist.

derStandard.at: Ihrer Ansicht nach ist das gegenwärtige politische System in Russland also ein ideales System?

Kordonsky: Ich bin der Ansicht, dass es kein ideales System gibt. Es gibt unterschiedliche gesellschaftliche Biotope. Ein ganz einfaches Beispiel: Ich quäle mich in der Wiener Kultur, weil ich hier nicht rauchen darf. 

derStandard.at: Da haben Sie es in Wien aber noch einigermaßen gut. 

Kordonsky: Nehmen wir die USA, da ist der Kampf gegen das Rauchen stark im Gange. Das hat dazu geführt, dass es einen enormen Anstieg beim Verbrauch von Antidepressiva gab, das Ergebnis dessen ist wiederum die Leibesfülle der Amerikaner. Das zeigt die Statistik. Vielleicht ist es besser, zu rauchen und sich nicht an diese Normen zu halten? Ich habe eine sehr skeptische Haltung gegenüber humanitären Maßnahmen aller Art, weil die Folgen im Voraus nicht durchdacht werden. Die Werte der westlichen Kultur, von denen immer die Rede ist, haben ihre Beschränkungen.

derStandard.at: Putins Partei "Geeintes Russland" musste bei der Parlamentswahl große Verluste hinnehmen. Im März steht nun die Präsidentschaftswahl an. Wird Putin im ersten Wahlgang schon gewinnen können?

Kordonsky: Das ist sehr schwer vorherzusagen. Das hängt von Putin selbst ab und auch von denen, die gegen ihn antreten.

derStandard.at: Die Tatsache, dass Putin jetzt die Protestierenden zu beschwichtigen versucht, ist ja doch ein Hinweis, dass es für ihn nicht mehr so einfach ist, wie es einmal war.

Kordonsky: Es ist sehr schwierig, über die Motive Putins zu sprechen, aber er wird sich jetzt wohl überlegen, wie er die wohlhabende Grenzschicht, die derzeit protestiert, mit Ressourcen wieder befrieden kann. (derStandard.at, 19.1.2012)