Christoph Klein und Eva Mückstein diskutierten

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Psychotherapie wird in Österreich viel zu selten von den Krankenkassen finanziert, beklagt die Psychotherapeutin Eva Mückstein. Christoph Klein vom Hauptverband ortet historische Ursachen. 

Standard: In Österreich wurde die Psychotherapie erfunden, der Berufsverband der Psychotherapeuten ortet aber eine krasse Unterversorgung. Inwiefern?

Mückstein: Wir gehen davon aus, dass mindestens 110.000 Menschen in Österreich eine Psychotherapie bräuchten, denn laut Schätzungen hat jeder Vierte im Laufe seines Lebens ein Risiko, psychisch zu erkranken. Nur 70.000 Menschen nehmen in Österreich Psychotherapie in Anspruch. 35. 000 bekommen die Behandlung von den Kassen finanziert und werden in Versorgungseinrichtungen betreut, 30.000 müssen die sogenannte Kostenzuschussregelung in Anspruch nehmen, sie zahlen die Psychotherapie privat, bekommen aber von den Kassen pro Sitzung nur 21,80 Euro ersetzt. Dieser Betrag wurde seit Jahren nicht erhöht. Mehr als die Hälfte der Betroffenen hat entweder kein oder nur ein geringes Einkommen, sie können sich diese Therapie also kaum leisten. Drastisch formuliert, werden psychisch Kranke in unserem Lande im Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeit Psychotherapie diskriminiert. Man könnte von unterlassener Hilfeleistung sprechen.

Klein: Das stimmt so nicht. Psychotherapie ist eine wichtige, aber verglichen mit der Medizin junge Leistung, die von den Kassen laufend ausgebaut wurde. Wir sind auf einem Niveau, das heute über dem liegt, das der Gesetzgeber mit der dafür gewidmeten Beitragserhöhung zur Verfügung gestellt hat. Zu den von Ihnen erwähnten 70.000 werden übrigens weitere 65.000 Menschen von Ärzten mit psychotherapeutischer Ausbildung betreut. Das sind meist kürzere Behandlungen, die nicht geringzuschätzen sind, zumal viele ja immer noch Scheu haben, zum Psychotherapeuten zu gehen, diese Hilfe aber gut annehmen können. Wir wollen die Versorgung trotz des Drucks zu sparen weiter verbessern, liegen aber auch jetzt nicht so schlecht, wie manchmal behauptet wird.

Mückstein: Die Behandlung durch einen Arzt mit Psy-Diplom ist aber doch keineswegs als Psychotherapie einzustufen. Psychotherapie hat sehr geordnete Rahmenbedingungen. Sie ist längerfristig angelegt, denn Veränderungs- oder Bewältigungsprozesse brauchen Zeit. Insofern ist Ihre Rechnung falsch, ein Scheinargument, um die Situation besser darzustellen. Dazu der internationale Vergleich: Bei uns liegt der Versorgungsgrad für Psychotherapie bei 0,8 Prozent, europaweit ist das beschämend wenig. In den deutschsprachigen Nachbarländern nehmen 2,5 Prozent der Bevölkerung diese Behandlung in Anspruch - und zwar voll finanziert durch die Krankenkasse.

Standard: Konnte der Hauptverband eine Unterversorgung bei psychisch kranken Menschen durch Psychotherapie feststellen?

Klein: Wir haben in Österreich generell zu wenig solide epidemiologische Daten, an denen Versorgungspolitik ansetzen könnte. Weil psychische Gesundheit ein wichtiges Thema für uns ist, sind wir dabei, eine Strategie zu entwickeln, die auf einem von uns selbst erhobenen und 2011 veröffentlichten Überblick über die Versorgungssituation beruht. Dem zufolge nehmen jährlich 900.000 Menschen in Österreich aufgrund psychischer Diagnosen das Sozialversicherungssystem in Anspruch. Das heißt aber nicht, dass all diese Menschen psychotherapiebedürftig sind. Das für den Versorgungsgrad wohl wichtigste Merkmal ist, ob Menschen, die Psychotherapie wollen, sie in zumutbarer Zeit bekommen. In unserer Studie haben unsere Vertragspartner - meist sogenannte Versorgungsvereine, die Psychotherapie auf Krankenschein anbieten - eine durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz zwischen null und fünf Monaten gemeldet.

Mückstein: Aber wir wissen doch alle, dass die Praxis ganz anders aussieht. Ich bekomme zweimal pro Woche Anrufe von Menschen, die eine Psychotherapie auf Krankenschein suchen. Aber die Hürden sind enorm. Das System mit den Versorgungsvereinen, das im Jahr 2000 etabliert wurde, ist gescheitert. Wir sehen über die Jahre, dass nicht sehr viel mehr Menschen zur Psychotherapie kommen, obwohl sie dazu bereit wären.

Standard: Was wäre ein besseres Modell?

Mückstein: Ein Gesamtvertrag, wie er seit 20 Jahren gesetzlich vorgesehen ist und bei den Ärzten praktiziert wird. Bei Kassen-Psychotherapeuten sollte es einen Tarif geben. Wer zum Wahltherapeuten oder -therapeutin geht, sollte 80 Prozent des Tarifs zurückerstattet bekommen. Das funktioniert ja auch im Wahlarztsystem so. Die Forschung belegt ja auch, dass die Behandlungen im niedergelassenen Bereich nicht nur extrem kosteneffizient, sondern auch sehr erfolgreich sind. Trotzdem verweigern die Kassen bis jetzt einen Gesamtvertrag.

Klein: Nicht ohne Grund. 2000 hat kurz vor Abschluss des unterschriftsreifen Gesamtvertrags der Bundesverband der Psychotherapeuten angekündigt, alle Psychotherapeuten, die gegen den Vertrag juristisch vorgehen wollen, zu unterstützen. So kann eine Vertragsbeziehung nicht funktionieren. Stattdessen haben die Krankenkassen Verträge mit Gruppen von Psychotherapeuten abgeschlossen, die Psychotherapie auf Krankenschein anbieten wollen, eben den Versorgungsvereinen. Daneben gibt es den Zuschuss zu privat bezahlter Psychotherapie, der bewusst nicht angehoben wurde, um die vorhandenen Mittel auf den Ausbau der kassenfinanzierten Psychotherapie in den Versorgungsvereinen zu konzentrieren. Eine Erhöhung des Zuschusses würde den Patienten dagegen nur teilweise zugute kommen.

Standard: Inwiefern?

Klein: Mangels Richttarif gäbe es keinerlei rechtliches Hindernis, die privat verlangten Honorare um den gleichen Betrag zu erhöhen wie den Zuschuss - aus Patientensicht ein Nullsummenspiel.

Mückstein: Es ist ärgerlich, wie Sie wesentliche Details dieser Kontroverse ausklammern. Der Rahmenvertrag 2000 kam deshalb nicht zustande, weil er in der Form damals für zwei Drittel aller Psychotherapeuten das berufliche Aus bedeutet hätte. Sie wären nicht mehr abrechnungsberechtigt gewesen. Dagegen musste man sich wehren. Ihrer Logik zufolge müssten Psychotherapeuten dann wohl auch ihre Honorare reduzieren, wenn der Zuschuss weniger wird. Ich verweise noch einmal auf das Wahlarztsystem, das durchaus gut funktioniert.

Standard: Im Bericht des Hauptverbandes ließ eine Zahl besonders aufhorchen: Für Psychopharmaka werden 250 Millionen Euro ausgegeben. Gibt es eine Erklärung?

Klein: Medikamente sind gerade bei schweren psychischen Erkrankungen oft ein unverzichtbarer Beitrag zur Lebens- und Arbeitsfähigkeit der Betroffenen. In unserer Studie haben wir aber festgestellt, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil bestimmter Medikamente nur ein Mal verschrieben wurde, obwohl sie nur bei längerer Einnahme wirksam und sinnvoll sind. Unsere Erklärung: Es dürfte zum Teil an der Compliance, also der Therapietreue von Patienten, zum Teil an der Präzision der Verschreibungen liegen, deren Hauptlast die Allgemeinmediziner tragen. Wir werden den Dialog mit der Ärzteschaft in dieser Frage suchen.

Mückstein: Aus unserer Sicht gibt es drei Gründe für die hohen Medikamentenkosten. Die Marketingstrategien der Pharmaindustrie, der Zeitmangel der Ärzte und die fehlende Kontrolle. 78 Prozent der Psychopharmaka werden von Hausärzten verschrieben, ein Besuch dort dauert durchschnittlich sechs Minuten. Eine Diagnose kann in dieser Zeit nicht gestellt werden. Dabei wissen wir, dass bei leichten und mittelgradigen Störungen Psychotherapie erfolgreicher als Psychopharmakatherapie ist. Bei mittleren bis schweren Störungen sollten Psychopharmaka und Psychotherapie kombiniert werden. Auch das ist in Deutschland bereits Standard.

Klein: Sie sprechen schwierige Abgrenzungsfragen an. Psychotherapie ist auch ein wichtiger Ansatz für Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung. Die Krankenversicherung darf aber nur zahlen, wenn auch tatsächlich eine Krankheit vorliegt.

Mückstein: Da schauen wir sehr genau hin.

Klein: Psychotherapeuten sind keine Vertragspartner der Kassen.

Standard: Wer indiziert denn die Psychotherapie?

Klein: Nach derzeitiger Rechtslage ist eine ärztliche Untersuchung Voraussetzung für Psychotherapie als Kassenleistung. Nach den ersten zehn Stunden braucht es eine chefärztliche Bewilligung. Auch eine Diagnostik durch klinische Psychologen kann ärztlich angeordnet werden.

Mückstein: ... obwohl Psychotherapeuten genauso wie Ärzte zur eigenständigen Diagnostik berechtigt und ausgebildet sind. Das System traut sich nur nicht, bei den Ärzten einzugreifen, bei den Psychotherapeuten hat man weniger Hemmungen. Menschen wird Therapie verwehrt, die bereit sind, sich behandeln zu lassen. Das geht nur, weil psychische Erkrankungen immer noch ein Tabuthema sind und psychischKranke keine laute Stimme haben, um aufzuschreien.

Standard: Ließen sich nicht Kosten zum Beispiel für Psychopharmaka zugunsten von Psychotherapie umverteilen?

Klein: Wie? Wenn ein Patient zum Arzt geht und dieser nicht Psychotherapie vorschlägt, sondern ein Medikament verschreibt, liegt das in der gesetzlichen Behandlungsfreiheit. Wir geben heute für Psychotherapie und klinisch psychologische Diagnostik 70 Millionen Euro aus. Ohne rechtliche Möglichkeit der von Ihnen angesprochenen Umverteilung bräuchte es für eine schnelle Aufstockung zusätzliches Geld. Politik und Öffentlichkeit aber sagen: Ihr habt Schulden von mehr als einer halben Milliarde, ihr müsst konsolidieren. Wir sind also in der Klemme. Auf der einen Seite sagt man uns: Macht mehr für psychisch Kranke, auf der anderen Seite sollen wir sparen. Psychologisch gesehen ist das ein sogenannter Doublebind. Es ist unmöglich, beides zu erfüllen.

Mückstein: Man muss der Politik aber auch vorwerfen, dass seit 1992 der gesetzlich vorgesehene Ausbau von Psychotherapie nicht umgesetzt wurde. Nur ein geringer Teil all jener Menschen, die Psychotherapie in Anspruch nehmen wollen, bekommen sie finanziert. Das derzeitige Versorgungssystem ist gescheitert. Man sollte nicht rückwärtsgewandt sondern zukunftsorientiert agieren und an einem neuen Gesamtvertrag nach dem Muster des ärztlichen Systems arbeiten. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 23.01.2012)