Schreibt Bücher "voll aufregender intellektueller Unruhe": Franz Schuh.

Foto: Helmut Wimmer

Moralisch sei der Mensch "die wandelnde Grauzone", weiß der Philosoph-Dichter und gibt alsbald in seinem Relativierungssinn zu bedenken, er kenne "keine schönere und wahrhaftigere Beschäftigung als das Absägen des eigenen Asts".

In seinem Buch Der Krückenkaktus. Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod beschreibt Franz Schuh faszinierend existenzielle Wege und individuelle Umwege, Denkwürdigkeiten und Bedenkliches. Der Titel Der Krückenkaktus sei eine erfundene Bezeichnung, das Gemeinte gebe es jedoch tatsächlich. "Mit Krücken hat man ein Problem, wenn man viele transportieren muss", und deswegen habe man diese "wie eine Scheibtruhe schiebbare Kuppel, die viele Löcher hat", erfunden. Ein Symbol für die praktische Veranlagung des Menschen sei der Krückenkaktus, der "Parallelen zu meiner eigenen Arbeit" erkennen lasse: ein Problem, eine Erfindung, eine Tatsächlichkeit und ein Sinnbild, gebündelt.

"Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod" lautet der Untertitel von Schuhs (wie er zu Recht betont:) "Komposition" aus Essays, Erzählungen und Gedichten. Seine denkstellerische Wertschöpfung ist Werkschöpfung. Narrative Bögen und Leitmotive spannen die Reflexionen über Werte, Verhalten, Zustände sowie über die eigene Reflexion zusammen. Die Band-Breite reicht von moralischen Überlegungen und politischen, medialen Beobachtungen bis zu anekdotischen Szenen und persönlichen Befindlichkeiten.

"Der alteingesessene Wunsch / nach begrifflosem Glück / lässt mich einheimisch wirken", heißt es im ersten Gedicht, das schließt: "Das Lenken der Aufmerksamkeit / auf Sprache ist ein Einlenken. / In einem Monat ungefähr / werde ich sechzig Jahre alt, / und es macht mir nichts aus." Was offenbar schon was ausmacht, sind die körperlichen Probleme; sie bringen das Ich ins AKH, in dessen merkwürdige Räumlichkeiten Der Krückenkaktus mehrmals führt. Das Vorwort beginnt ja auch mit dem Rat: "'Schreiben Sie über ihr Knie', sagte der Präsident zu mir."

Welche Schleifen und Schlingen Franz Schuhs Texte ziehen, lässt sich gleich im ersten langen Essay Das Zittern des Geistes. Über Thomas Mann, Robert Musil und andere Größenverhältnisse ersehen. "Ich bin ein Kind der Wiener Vorstadt", nimmt er das "einheimisch" des Gedichts auf, "und sollte dort Heimat sein, wo noch nie einer gewesen ist, so träfe es auf mich nicht zu."

Dieser der Aufklärung und der Dialektik Folgende kommt vom Großschriftsteller Thomas Mann auf ein ausdrückliches Erkenntnisinteresse, das viele andere begleiten: "Ich habe ein Interesse an Größe, und ich bin fasziniert von der Faszination - vor allem von einer, die ich nicht teilen muss. Ich möchte wissen, wie Größe zustande kommt, und noch viel mehr, wie die Vorstellung von Größe zustande kommt und wie sie zelebriert wird".

Die Antwort hat kunstsoziologische Größe und zeigt einmal mehr, dass Schuh zu den wenigen gehört, die Bourdieu und Foucault zusammenzudenken vermögen. Sei jemand einmal mit dem Etikett Größe ausgestattet, dann mache sich seine Größe selbstständig, entwickle also ein Eigenleben; auf dieser Selbstgerechtigkeit beruhe der Geniekult, "der das Geniale an seinem Objekt systematisch verfehlt, nicht zuletzt deshalb, weil der Kult dazu dient, die Bewunderer zu berauschen." Aktuelles Zwischenergebnis: Ohne Breitenwirkung sei heute Größe nicht zu haben, somit nicht ohne Reklame.

Franz Schuh schafft es, den Eindruck zu vermitteln, man könne dem Schreibenden beim Denken zuschauen. "Ich gebe zu", liest man in dem Essay Liebe & Tod, "an diesem Punkt wird mir meine Argumentation fragwürdig".

Toller Rhythmus

Dafür bietet er in ihrer Knappheit schlagende Definitionen. Manche seiner Sätze sind geradezu Aphorismen, immerhin leitet den Band ein Lichtenberg-Motto ein. "Radikalität als eingebürgertes Kriterium verhindert Radikalität" oder "Der Preis für die Freiheit der Kunst ist, dass sie zwar Macht über alles beanspruchen und simulieren darf, dass sie diese Macht aber garantiert nicht hat."

Bringen die Gedichte eine intensive Note eines lyrischen Ich in den Band, vom Existenziellen bis zum Kasperlhaften, so tritt in der Mitte des Buchs das Ich selbst in den Vordergrund. Das Gedicht Egoismus findet sich vor der kurzen Erzählung Bei der Psychologin, in der es heißt: "Ich verwickle mich ja immer in irgendwas Persönliches".

Den Kern des Bandes bildet die lange Erzählung einer Nacht, bezeichnend dialektisch überschrieben mit Am Tag als ich Wolfgang Koeppen traf. Ein toller Rhythmus, faszinierendes Wortgleiten, feine Motivketten. "Diese Unruhe." So der erste, am Beginn einiger Abschnitte wiederholte erste Satz - und die Unruhe dynamisiert den Text.

Er kommt vom TV-beunruhigten Abend auf Kurpflege, Operndirektor, Geilheit, unerwiderte Liebe, Taxifahrt, Schwarzenegger, Liegestütz beim Würstelstand, Vaters Tod, auf die Begegnung mit dem Dichter und dessen "nicht resignative Melancholie". Ein Glanzstück erzählerischer Dynamik. Ein Buch voll aufregender intellektueller Unruhe. (Klaus Zeyringer, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 21./22. Jänner 2012)